24. September 2015 | Pressemitteilung

Kultur der Kindheit prägt Familienplanung

Neue Studie zu Migration und Fertilität: Einwanderinnen, die in der Türkei zur Welt kamen, bekommen früher und häufiger Kinder als in Deutschland geborene Frauen aus türkischstämmigen Familien.
 

Einwanderinnen, die in der Türkei zur Welt kamen, bekommen früher und häufiger Kinder als in Deutschland geborene Frauen aus türkischstämmigen Familien. © deyangeorgiev / photocase.com

Rostock. Wie viele Kinder man bekommt und in welchem Alter, ist nicht nur eine bewusste Entscheidung im Erwachsenenalter. Offenbar sind junge Eltern spürbar von Erfahrungen aus der Kindheit geprägt. Das belegen erstmals vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock ausgewertete Daten von türkischen Migrantinnen: Sind sie in der Türkei geboren worden und erst im Laufe der Schulzeit nach Deutschland eingewandert, werden sie häufiger und jünger Mütter als Frauen, die in Deutschland als Kinder türkischer Eltern zur Welt gekommen sind. Beide Gruppen bekommen früher und häufiger Kinder als westdeutsche Frauen (Nicht-Migrantinnen).

Diese Ergebnisse hat MPIDR-Forscherin Katharina Wolf jetzt zusammen mit Sandra Krapf von der Universität Köln in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ veröffentlicht.

Integration verstehen

„Unser Ziel war es, Integration besser zu verstehen“, sagt MPIDR-Demografin Katharina Wolf. Forschern ist schon länger bekannt, dass sich die Fertilität von Einwanderinnen und Nicht-Migrantinnen unterscheidet: So kriegen Zuwanderinnen, die aus Ländern mit höheren Geburtenraten kommen, zunächst auch in Deutschland mehr Kinder und werden früher Mütter. Ihr Verhalten passt sich jedoch im Zuge ihrer Integration mit der Zeit dem in Deutschland an. Bisher war unklar, wie stark dabei die Prägung durch die Kultur der alten Heimat nachwirkt – auch über Generationen hinweg.

Spuren von Sozialisation und Anpassung: In der Türkei geborene Migran-tinnen (1,5 Generation) bekamen erste Kinder früher und häufiger als die Nach-kommen türkischer Einwanderer (2. Generation). Frauen, die immer schon in Deutschland lebten, wurde am spätesten und am seltensten Mutter. Daten: Mikrozensus 2005 und 2009. (Laden sie dieses Bild als Vektor- (PDF-Datei, 133 kB) oder Pixelgrafik (PNG-Datei, 43 kB) herunter.) © MPIDR

Katharina Wolf unterscheidet zwischen Migrantinnen der „zweiten Generation“, die von türkischen Eltern bereits in Deutschland geboren wurden, und solchen der „1,5. Generation“, die in der Türkei zur Welt gekommen waren und noch bis zu einem Alter von 16 Jahren dort gelebt hatten, bevor sie nach Deutschland einwanderten. Während in der zugewanderten 1,5. Generation mit 35 Jahren bereits 86 Prozent  der Frauen ein erstes Kind hatten, waren es in der zweiten Migrantinnen-Generation nur 77 Prozent. Die westdeutschen Nicht-Migrantinnen blieben noch dahinter zurück: Unter ihnen waren lediglich 63 Prozent mit 35 bereits Mütter. Zum Vergleich: Unter Frauen, die in der Türkei leben, haben mit 35 bereits 90 Prozent ein Kind. (Diese 90 Prozent sind nicht das Ergebnis der MPIDR-Untersuchung, sondern stammen aus einer früheren türkischen Studie.)

Die in der Türkei geborenen Migrantinnen (1,5. Generation) waren bei der Geburt ihrer Kinder am jüngsten: Mit 24 Jahren war die Hälfte von ihnen bereits Mutter geworden. Für die hier geborenen Frauen aus türkischstämmigen Familien (zweite Generation) lag dieses Alter bei 27 Jahren, für die westdeutschen Nicht-Migrantinnen bei 31.

Sozialisation in der Kindheit oder Anpassung als Erwachsene?

„Die Sozialisation in der frühen Kindheit wirkt sehr viel stärker auf die Familienplanung, als man vermuten würde“, sagt Katharina Wolf. Denn die Frauen beider Migrantinnen-Generationen ver-hielten sich beim Kinderkriegen unterschiedlich, obwohl sie, bevor das erste Kind kam, bereits einige Jahre als junge Erwachsene in Deutschland gelebt und die gleichen Rahmenbedingungen kennengelernt hatten, die hier für Familien gelten: von Kinder- und Elterngeld über die Einstellun-gen von Arbeitgebern und Gesellschaft zu Kindern und Elternschaft bis hin zur Kinderbetreuung.

Dass die zugewanderten Frauen der 1,5. Generation früher und häufiger ihre ersten Kinder bekamen, müsse darum maßgeblich an den Vorstellungen von Familiengründung und Geschlechterrollen gelegen haben, die die Frauen in der Kindheit bei den Müttern in der Türkei gesehen und gelernt hatten, glaubt Katharina Wolf. Wenn sich Kinder auf diese Weise im jungen Alter die Vorstellungen der Eltern und deren Kultur zu eigen machen, sprechen Wissenschaftler von Sozialisation.

Diese Sozialisation fand für die Migrantinnen der 1,5. Generation in der Türkei in einem ganz anderen Umfeld statt als für die der zweiten Generation in Deutschland: Mit durchschnittlich 2,2 Kindern pro Frau ist die Geburtenrate in der Türkei im Vergleich zu Deutschland (1,4 Kinder pro Frau) hoch. Die Kinderlosigkeit sei dort nicht nur niedriger als hier, sondern auch weniger akzep-tiert, sagt Katharina Wolf. „Besonders auf dem Land hüten die Frauen in der Türkei meist Haus und Hof und bekommen früh viele Kinder.“

Mit steigender Bildung schwindet der Einfluss der Kindheit

Bislang galt als offene Frage, welcher Einfluss langfristig überwiegt: die Sozialisation in der Kind-heit oder die so genannte Adaption, also die Anpassung an die Gesellschaft in der neuen Heimat im Erwachsenenalter. Insgesamt scheine für die 1,5. Generation der türkischen Einwanderinnen die Sozialisierung die Oberhand zu haben, sagt Demografin Wolf. Deren Einfluss hängt aber stark von der Bildung der Frauen ab: Je höher ihr Schulabschluss ist, desto kleiner sind die Un-terschiede bei Häufigkeit und Timing der Geburten – sowohl im Vergleich zur zweiten Migran-tinnen-Generation als auch zu den deutschen Frauen.

Die MPIDR-Studie bezieht sich zwar nur auf türkische Zuwanderinnen. Sie habe aber auch da-rüber hinaus Bedeutung, sagt Katharina Wolf: „Die Ergebnisse lassen sich in der Tendenz wahr-scheinlich auf andere Migrantengruppen übertragen.“ Das gelte aber nur, wenn die Frauen aus Ländern kämen, in denen die Geburtenrate ebenfalls höher sei als hier, und in denen sich Nor-men und Wertvorstellungen über Geburten und Familie ähnlich stark von denen in Deutschland unterschieden wie die in der Türkei.

Fertilitätsforschung für das Einwanderungsland Deutschland

Im Jahr 2014 lebten in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2,9 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln (3,6 Prozent der Bevölkerung). Sie stellten unter den 16,4 Millionen Einwohnern mit Migrationshintergrund (20,3 Prozent der Bevölkerung) nach den Deutschen die zweitgrößte Gruppe.

Für ihre Studie werteten die Demografinnen Wolf und Krapf die Daten von rund 3.000 Frauen mit und etwa 83.000 ohne Migrationshintergrund aus. Sie nutzen dazu Angaben aus den Mikrozen-sus-Runden von 2005 und 2009. In diesen Jahren wurden die Teilnehmer nicht nur nach ihrer  Nationalität und dem Jahr der Immigration befragt (nur bei Zuwanderern), sondern auch nach der Nationalität der Eltern. Nur dadurch konnten die Nachkommen türkischer Immigranten eindeutig identifiziert und so die 1,5. und die zweite Generation unterschieden werden. Der Mikrozensus ist eine jährliche Befragung von einem Prozent der Bevölkerung.

Über das MPIDR

Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen. Die Wissenschaftler*innen des Instituts erforschen politikrelevante Themen wie den demografischen Wandel, Altern, Geburtendynamik und die Verteilung der Arbeitszeit über die Lebensspanne, genauso wie den digitalen Wandel und die Nutzbarmachung neuer Datenquellen für die Erforschung von Migrationsströmen. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt international zu den Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört der Max-Planck-Gesellschaft an, der weltweit renommierten deutschen Forschungsgemeinschaft.

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Original-Publikation

Krapf, S. and K. Wolf: Persisting differences or adaptation to German fertility patterns? First and second birth behavior of the 1.5 and second generation Turkish migrants in Germany. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. [Zuerst online veröffentlicht: 21. September 2015] DOI:10.1007/s11577-015-0331-8

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