
Thema
Deutschland
35 Jahre Wiedervereinigung
MPIDR-Forschende sprechen über demografische Lage Deutschlands
35 Jahre deutsche Einheit – und doch ist Deutschland laut verschiedener demografischer Anhaltspunkte noch immer nicht vereint. Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) stellen in kurzen Zitaten die aktuelle Lage in Ost und West dar. Sie beantworten Fragen dazu, was die Menschen in Deutschland in ihrer Lebensweise eint und was sie trennt, wie lange sie leben, wie gesund sie sind, wie viele Kinder sie bekommen und ob sie umziehen.

© istockphoto.com/Olga Osipchuk
Lebenserwartung und Gesundheit

© MPIDR
Josephine Jackisch
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Arbeitsbereich Gesundheitszustand der Bevölkerung
jackisch@demogr.mpg.de
„Ostdeutschland hatte von den 70er-Jahren bis in die Nachwendezeit eine deutlich niedrigere Lebenserwartung als Westdeutschland. Diese Ungleichheiten sind weitestgehend verschwunden – ein enormer Gewinn an gesundheitlicher Chancengleichheit, zumal es kaum eine Angleichung in der Vermögensverteilung gab. Es gibt allerdings erste Anzeichen dafür, dass Ungleichheiten zwischen Ost und West in den letzten Jahren wieder größer geworden sind. Mich erschüttern vor allem die erheblichen Ungleichheiten in der Kindheit, die sich langfristig auf die Gesundheit auswirken können. Fast jedes vierte Kind im Osten ist armutsgefährdet – das ist etwa doppelt so viel wie in Westdeutschland. Aber der Ost-West-Vergleich greift zu kurz; ein differenzierter Blick auf regionale und sozioökonomische Ungleichheiten lohnt sich mehr.“

© mit Erlaubnis von Jonas Schöley
Jonas Schöley
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Arbeitsbereich Gesundheitszustand der Bevölkerung
schoeley@demogr.mpg.de
“35 Jahre nach der Wende leben Frauen im Osten und Westen Deutschlands gleich lang. Bei Männern stagniert die Angleichung der Lebenserwartung zwischen Ost und West jedoch seit Jahren. Dabei sind es gerade auch die "vermeidbaren Todesursachen", etwa durch Rauchen und Alkoholkonsum, welche die kürzere Lebenszeit im Osten erklären. Die Ost-West-Unterschiede in der Mortalität sind also nicht Schicksal, sondern Ausdruck von verschiedenen Lebensumständen.”
Referenzen
[1] Statistisches Bundesamt
[2] Mühlichen, M., Mathias Lerch, M., Markus Sauerberg, M., Grigoriev, P.: Different health systems – Different mortality outcomes? Regional disparities in avoidable mortality across German-speaking Europe, 1992–2019. Social Science & Medicine (2023). DOI: 10.1016/j.socscimed.2023.115976
Arbeitsleben, Familie und Karriere, Rente

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Christian Dudel
Stellvertretender Leiter (Forschungsgruppe: Demografie der Arbeit)
dudel@demogr.mpg.de
„Es gibt noch immer deutliche Unterschiede in der Länge der Erwerbsleben zwischen Ost und West. Während ostdeutsche Frauen im Durchschnitt ein Jahr länger arbeiten als westdeutsche Frauen verhält es sich bei den Männern umgekehrt und die Lebensarbeitszeit westdeutscher Männer ist um ein Jahr höher als die der ostdeutschen Männer.“

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Nicole Hiekel
Forschungsgruppenleiterin: Gender Inequalities and Fertility
hiekel@demogr.mpg.de
„Die deutsche Einheit hat zwei unterschiedliche Traditionen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zusammengeführt. In Ostdeutschland waren Frauen schon vor der Wende stark in den Arbeitsmarkt integriert und Kinderbetreuung weitgehend gesellschaftlich organisiert. Im Westen blieb Sorgearbeit dagegen lange überwiegend in Familien und vor allem bei Frauen verankert. Auch 35 Jahre später sehen wir diese Unterschiede noch: Frauen im Osten sind nach wie vor häufiger vollzeiterwerbstätig, während im Westen Teilzeitarbeit stärker verbreitet ist. Insgesamt ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen gestiegen, doch die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit bleibt eine zentrale Herausforderung – weil sie Gleichstellung bremst und gesellschaftliche Teilhabe für Frauen und Männer ungleich verteilt.“

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Philipp Dierker
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Arbeitsbereich Fertilität und Wohlbefinden
dierker@demogr.mpg.de
„Während zu Zeiten der DDR die Scheidungsrate in Ostdeutschland deutlich höher war als in Westdeutschland, werden seit der Wiedervereinigung mehr Ehen in Westdeutschland geschieden. Dies lässt sich teilweise durch unterschiedliche gesetzliche Regelungen erklären, die in Ostdeutschland ab der Wiedervereinigung nicht mehr in Kraft waren. Beispielsweise wurde durch die Wiedervereinigung in Ostdeutschland das Trennungsjahr eingeführt, und Umstellungen in der Arbeit der Familiengerichte in Ostdeutschland führten zu verzögerten Verfahren.“
Fertilität und Geburtenraten

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Steffen Peters
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Arbeitsbereich Fertilität und Wohlbefinden
peters@demogr.mpg.de
“Fertilitätsunterschiede zwischen ost- und westdeutschen Männern haben sich – ähnlich wie bei den Frauen – im Zeitverlauf verringert. Während die Fertilität in Ostdeutschland kurz nach der Wende deutlich gesunken, danach aber wieder angestiegen ist, ist sie bei westdeutschen Männern auf relativ konstantem Niveau geblieben.”

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Henrik Schubert
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Arbeitsbereich Fertilität und Wohlbefinden
schubert@demogr.mpg.de
„Die ehemalige innerdeutsche Grenze spiegelt sich weiterhin in regionalen Unterschieden der Fertilität wider, obwohl sich die allgemeinen Geburtenraten in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts signifikant angenähert haben und inzwischen nahezu gleich sind. Die verbleibenden Differenzen sind vor allem auf kulturelle und institutionelle Faktoren zurückzuführen und betreffen insbesondere die Kinderlosigkeit sowie die Häufigkeit von Zwei-Kind-Familien, die in Westdeutschland deutlich verbreiteter sind. Im Gegensatz dazu sind in Ostdeutschland weiterhin frühe Erstgeburten und Ein-Kind-Familien häufiger anzutreffen.“
Migration

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Athina Anastasiadou
Doktorandin Laboratory of Migration and Mobility
anastasiadou@demogr.mpg.de
„Wanderungsbewegungen von Ost- nach Westdeutschland sind in der Migrationsforschung besondere Beispiele für geschlechtsspezifische Migration und ihre demografischen Folgen. Um die Jahrtausendwende verließen viele gutausgebildete, junge Frauen Ostdeutschland, um sich in Westdeutschland eine Zukunft aufzubauen. Da weniger Frauen aus dem Westen in den Osten zogen, führte dies zu einer unausgeglichenen Geschlechterverteilung. Das hat bis heute demografische Folgen für den Osten Deutschlands, vor allem in ländlichen Gebieten. Seit 2016 ziehen mehr Menschen von West nach Ost, als von Ost nach West. Diese Migrationsbewegung von West nach Ost ist stark von Rückwanderungsbewegungen geprägt.“

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Aliakbar Akbaritabar
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Stellvertretender Leiter Training Laboratory of Migration and Mobility
akbaritabar@demogr.mpg.de
„Von 2019 bis 2020 leitete ich ein Forschungsprojekt zur wissenschaftlichen Landschaft der Metropolregion Berlin. Die abschließende Veröffentlichung zeigte, dass wissenschaftliche Einrichtungen in der Region Berlin zwar nach der Wiedervereinigung starke Kooperationsbeziehungen aufgebaut haben, es aber dennoch Potenzial für die Zukunft gibt. Eine aktuelle Studie vergleicht Ost- und Westdeutschland mit Nachbarländern, die ähnliche kulturelle, geografische und wirtschaftliche Eigenschaften sowie eine ähnliche Größe der wissenschaftlichen Arbeitskraft aufweisen. Zu diesen Ländern gehören Österreich und die Schweiz. Anhand historischer Daten aus den vergangenen 60 Jahren stellten wir fest, dass sich Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg schneller erholte und seine wissenschaftliche Produktion fortsetzte. Im Gegensatz dazu waren die wissenschaftlichen Einrichtungen in Ostdeutschland stark von der Teilung betroffen und erholten sich größtenteils erst nach der Wiedervereinigung. Die gute Nachricht ist jedoch, dass sich das ostdeutsche Wissenschaftssystem seitdem in Bezug auf wissenschaftliche Produktion und Kooperationen gut erholt hat. Diese Ergebnisse zeigen, dass das Wissenschaftssystem durch Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext beeinflusst werden kann.“
References
[1] Akbaritabar, A.: A quantitative view of the structure of institutional scientific collaborations using the example of Berlin. Quantitative Science Studies (2021). DOI: 10.1162/qss_a_00131
[2] Akbaritabar, A., Dańko, M. J., Zhao, X., & Zagheni, E.: Global subnational estimates of migration of scientists reveal large disparities in internal and international flows. Proceedings of the National Academy of Sciences (2025). DOI:10.1073/pnas.2424521122

© MPIDR
Thiago Zordan Malaguth
Doktorand Laboratory of Migration and Mobility
zordanmalaguth@demogr.mpg.de
„Ende der 1990er-Jahre und im ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre sind mehr Wissenschaftler*innen nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen, als weggezogen sind. In den vergangenen zehn Jahren hat sich diese Wanderungsbewegung umgekehrt: das Bundesland hat mehr Wissenschaftler*innen verloren als gewonnen. Die meisten Wissenschaftler*innen, die MV verlassen, bleiben in Deutschland und ziehen vor allem nach Berlin. Seit 2000 habe ich jedoch einen Anstieg der Wissenschaftler*innen festgestellt, die in andere europäische Länder und seit 2010 auch nach Asien auswandern.“
Andere Inhalte zum Tag der Deutschen Einheit
MPIDR Publikationen und Preprints
Schubert, H.-A.; Skirbekk, V.; Nisén, J.:
MPIDR Working Paper WP-2024-040. (2024)

Hünteler , B. M.; Polizzi, A.; van Raalte, A. A.:
SocArXiv papers. unpublished. (2024)

Dudel, C.; Loichinger, E.; Klüsener, S.; Sulak, H.; Myrskylä, M.:
Demography, 1–23. (2023)

Kühn, M.; Dudel, C.; Werding, M.:
Social Science Research 114:102906, 1–14. (2023)

Kolobova, M.; Jdanov, D. A.; Jasilionis, D.; Shkolnikov, V. M.; Rau, R.:
European Journal of Public Health, 1–7. (2023)

Mazzeo, F.; Schwartz, C.; Scherer, S.; Vitali, A.:
Comparative Population Studies 49, 317–336. submitted. (2024)

Schubert, H.-A.: Encouraging Mothers: The effect of German regional childcare policies on maternal employment between 2006 and 2018. Stockholm Research Reports in Demography. DOI: 10.17045/sthlmuni.12833744.v1
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