15. Oktober 2013 | News | Neue Veröffentlichung

Arme sterben früher

Die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten wachsen

Wer gut verdient hat und eine hohe Rente bezieht, hat auch eine höhere Lebenserwartung. © steffne / photocase.com

(Der folgende Text basiert auf dem Artikel "Widening socioeconomic differences in mortality among men aged 65 years and older in Germany" der MPIDR-Forscher Domantas Jasilionis und Vladimir Shkolnikov und ist mit kleineren Änderungen ebenfalls erschienen in der Ausgabe 03/2013 der vierteljährlichen Reihe Demografische Forschung aus Erster Hand.)

Die Lebenserwartung in Deutschland steigt seit Jahren. Profitieren können alle Bürger von diesem Anstieg – aber nicht gleichermaßen: Im Jahr 2008 etwa durften einkommensstarke 65-Jährige noch mit einer weiteren Lebenszeit von 20 Jahren rechnen. Ihren Altersgenossen mit sehr niedrigen Renten dagegen blieben nicht einmal mehr 15 Jahre.

Nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich damit zu? Sinkt die Lebenserwartung sozial niedriger Schichten vielleicht sogar? Fragen, die immer wieder auftauchen und auf die es oft schnelle, nicht immer richtige Antworten gegeben hat. Eine Studie des Rostocker Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) hat hierzu nun umfangreiche Daten der deutschen Rentenver-sicherung ausgewertet, die 86 Prozent der männlichen Bevölkerung erfassen. Vladimir Shkolnikov und Domantas Jasilionis vom MPIDR sowie Eva Kibele vom Zentrum für Bevölkerungsforschung an der Universität Groningen konnten in dieser Studie zeigen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung zwar in allen Schichten steigt, bei Männern mit sehr niedrigen Renten aber wesentlich langsamer als bei besser gestellten Altersgenossen.

Abb. 1: Verbleibende Lebenserwartung mit 65 Jahren nach Einkommensgruppen in Jahren: Wer eine hohe Rente (65 Rentenpunkte und mehr) bezieht, kann diese in der Regel auch länger genießen als Ruheständler mit sehr geringen Bezügen (30 bis 39 Rentenpunkte). Quelle: Eigene Berechnungen, Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung: FDZ-RV—SUFRTBNRTWF93-D8TDemoKibele

Wer gut verdient hat und eine hohe Rente bezieht, konnte diese Mitte der 90er Jahre gut drei Jahre (Westdeutschland) beziehungsweise sogar dreieinhalb Jahre (Ostdeutschland) länger genießen als Männer, die eine niedrige Rente bekamen. Und diese ohnehin schon erheblichen Unterschiede vergrößerten sich in den vergangenen Jahren sogar noch: Bis zum Jahr 2008 stieg der Abstand zwischen den beiden Gruppen im Westen um eineinhalb Jahre auf 4,8 Jahre und im Osten sogar um zwei Jahre auf 5,6 Jahre (vgl. Abb. 1 und 2). Das heißt, 65-Jährige mit sehr kleinen Renten durften im Jahr 2008 mit einer Lebenserwartung von 79,8 Jahren rechnen. Für gleichaltrige Rentner mit hohen Bezügen ergab sich dagegen eine Lebenserwartung von 84,3 Jahren.

Frauen wurden bei der Analyse ausgeschlossen, weil sich ihr Einkommen nur schwer ermitteln lässt. Denn zumindest in Westdeutschland speist es sich oft nicht nur aus eigenen Einkünften, sondern zum Teil aus dem Gehalt und der Rente des Ehemannes. Auch Männer mit Migrationshintergrund oder Ausländer wurden nicht berücksichtigt, weil sie oft eine unvollständige Erwerbsbiografie haben.

Die verbleibenden Rentner teilten die Demografen nach den Rentenpunkten ein, die sie im Laufe ihres Erwerbslebens gesammelt hatten (s. Glossar). Von den sechs Einkommensgruppen zogen sie die Gruppe mit den niedrigsten Renten (30 bis 39 Rentenpunkte) sowie die Gruppe mit den höchsten Renten (über 65 Rentenpunkte) für ihren Vergleich heran. Außerdem verglichen sie Arbeiter mit Angestellten. Um die Sterblichkeit dieser vier Gruppen gegenüberstellen zu können, wählten die Forscher zwei verschiedene Maßeinheiten: Sie prüften, wie hoch die Sterberate in den jeweiligen Gruppen pro Jahr war (vgl. Tab. 1). Und sie ermittelten die verbleibende Lebenserwartung der 65-Jährigen (vgl. Abb. 1).

Abb. 2: Bei der Lebenserwartung ist die Kluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren gewachsen: Die Grafik zeigt, wie viele Jahre ein 65-Jähriger mit hohem Lebenseinkommen länger lebt als ein Ruheständ- ler mit sehr geringen Bezügen. Quelle: Eigene Berechnungen, Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung: FDZ-RV—SUFRTBNRTWF93-D8TDemoKibele

Das Ergebnis ist eindeutig: In allen untersuchten Zeiträumen haben einkommensschwache Rentner die höchste, einkommensstarke Rentner die niedrigste Sterblichkeit. Mit der Zeit wurden die Unterschiede bei den Sterberaten und der Lebenserwartung ab 65 Jahren sogar noch größer. Vor allem ab Mitte der 90er Jahre zeigt sich, dass die Lebenserwartung einkommensschwacher Rentner verhältnismäßig langsam ansteigt. Innerhalb weniger Jahre wächst der Abstand auf die Lebenserwartung von besser gestellten Rentnern gleich um mehrere Monate.  Ab der Jahrtausendwende verlangsamt sich dieser Trend in Westdeutschland ein wenig. In Ostdeutschland dagegen steigt die Lebenserwartung der 65-Jährigen mit hohem Einkommen bis 2002 außergewöhnlich rapide an. Ihre Sterblichkeit war sogar entgegen dem allgemeinen Ost-West-Gefälle geringer als die der einkommensstarken Rentner in Westdeutschland. Damit müssen sie, so schlussfolgern die Autoren, auch einen maßgeblichen Anteil an dem enormen Wachstum der Lebenserwartung in Ostdeutschland nach der Wende und dem starken Rückgang des Ost-West-Gefälles gehabt haben.

Ab 2003 aber nehmen auch in Ostdeutschland die Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen nicht mehr ganz so stark zu. Weiterhin bleibt es aber sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland dabei, dass gut verdienende Rentner mehr von der steigenden Lebenserwartung profitieren als die Gruppe mit den geringsten Renten.

Die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten sind geringer als zwischen den Einkommensgruppen (vgl. Tab. 1). Sie stiegen ebenfalls ab Mitte der 90er Jahre an, blieben danach aber stabil oder nahmen sogar ab. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen Arbeitern und Angestellten recht grob, weil sie die Grenzen zwischen den sozialen Schichten und die Hierarchien im Arbeitsleben nur unzureichend abbildet. Dass sich dennoch auch hier verhältnismäßig große Unterschiede zwischen den beiden Gruppen nachweisen lassen, bestätigt einmal mehr das zentrale Ergebnis der Studie: Einkommensschwache profitieren weniger stark von der steigenden Lebenserwartung als finanziell besser Gestellte.

Tab. 1: Die Tabelle zeigt, wie hoch die Sterberate (pro 100.000 Menschen) in der jeweiligen Einkommensgruppe bzw. Beschäftigungsgruppe ist. Quelle: Eigene Berechnungen, Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung: FDZ-RV—SUFRTBNRTWF93-D8TDemoKibele

Durch den Ausschluss von Ausländern, Beamten und Selbstständigen sowie Männern, die während ihres Erwerbslebens weniger als 30 Rentenpunkte angesammelt haben, sind die verwendeten Daten zwar unvollständig. Die Demografen betonen jedoch, dass es sich hierbei um verhältnismäßig kleine Gruppen handele, die die Aussagekraft des Ergebnisses nicht beeinflussten. Zudem seien die Zahlen der Rentenversicherung die einzigen verfügbaren Daten in Deutschland, mit denen sich sowohl der sozioökonomische Status als auch die Sterblichkeit zuverlässig erfassen lassen. Sie liefern damit auch die einzige verlässliche Antwort auf die eingangs aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von Lebenszeit und sozialem Status.


Glossar: Einteilung nach Rentenpunkte

Die Anzahl der Rentenpunkte wird aus dem Verhältnis von persönlichem Einkommen und dem Durchschnittseinkommen eines Jahres berechnet. Bei einem Einkommen, das über dem Durchschnitt liegt, gibt es mehr als einen Rentenpunkt pro Jahr, wenn es darunter liegt, weniger als einen. Die Zahl der Rentenpunkte berechnet sich also danach, ob ein Mann über- oder unterdurchschnittlich verdient hat und wie viele Jahre er erwerbstätig war. Männer, die im Laufe ihres Berufslebens weniger als 30 Rentenpunkte erworben haben, wurden von der Analyse ausgeschlossen. Zum einen enthält diese Gruppe zwar tatsächlich Menschen, die extrem wenig verdient haben. Gleichzeitig handelt es sich aber um eine sehr heterogene Gruppe, weil sie auch Rentner umfasst, die über zusätzliches Einkommen zum Beispiel aus Kapitalerträgen oder selbständiger Arbeit verfügen und daher die Ergebnisse stark verzerren könnten.

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