29. Juni 2005 | Pressemitteilung

Die neue Formel des Alterns

Eine kleine, aber folgenschwere Ergänzung zur klassischen Evolutionstheorie des Alterns zeigt, dass Altern kein unvermeidlicher, fortschreitender Prozess sein muss

Nach der klassischen Evolutionstheorie des Alterns, mitbegründet und formalisiert von dem berühmten Biologen William D. Hamilton, ist das Altern bei jedem lebenden Wesen unvermeidbar: Der Alterungsprozess, assoziiert mit schwindender Funktionsfähigkeit und Gesundheit, ist ihr zu Folge das unausweichliche Ergebnis nachlassender selektiver Kräfte mit zunehmendem Alter. Wenn die Fortpflanzungsphase erst einmal abgeschlossen sei, so Hamilton in seinem bahnbrechenden, vor knapp 40 Jahren veröffentlichten Artikel, könne die Selektion keinerlei Druck mehr gegen schädliche, sich spät im Lebenslauf ausprägende Mutationen ausüben – der Alterungsprozess und ein zunehmendes Sterberisiko seien die zwangsläufige Folge. Seneszenz (vom lateinischen Wort senescere für altern), das heißt die steigende Mortalitätsrate mit zunehmendem Alter, könne "von keinem denkbaren Lebewesen vermieden werden ", ja sie müsse sogar in "den entferntesten Ecken des bizarrsten denkbaren Universums" wirken.

Doch ist dieses Modell allgemeingültig? Steigt die Mortalitätsrate tatsächlich grundsätzlich nach Beginn der Fortpflanzung an? Soll das gleiche Modell für so verschiedene Arten wie einen Lachs, der unmittelbar nach seinem ersten und einzigen Ablaichen stirbt, oder einen Baum gelten, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit und Samenproduktion mit zunehmender Körpergröße steigen?

Annette Baudisch vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung trägt mit einer kleinen, aber folgenschweren Ergänzung des Modells der Vielfalt der Mortalitätsmuster in der Natur Rechnung und wirft damit ein neues Licht auf das grundlegende Verständnis, wie sich das Altern in der Evolution geformt hat. In einer Publikation in dem Journal "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS, Vol. 102, Nr. 23, Seiten 8263-8268) zeigt sie, dass es durchaus Alternativen zu der von Hamilton aufgestellten Grundregel des unausweichlich fortschreitenden Alterns gibt. Der 1966 von Hamilton veröffentlichte Artikel zur "Formung der Seneszenz durch die natürliche Selektion" spiegelt demnach keine allgemeingültige Erklärung des Alterungsprozesses wider, sondern liefert vielmehr ein erstes Kapitel eines laufend weiter geschriebenen Buches zur modernen Evolutionstheorie des Alterns, das die Vielfalt der Erscheinungsformen des Alterns und Optimierungsprozesse in der Evolution berücksichtigt.

Das Hamilton’sche Modell erklärt beispielsweise nicht, weshalb für eine Reihe von Lebensformen nach Beginn der Fortpflanzung das Sterberisiko nicht etwa steigt, sondern sich auf konstantem Niveau halten oder sogar fallen kann. Die Mortalitäts- und Fertilitätsmuster sind vielfältiger, als es das Hamilton-Modell erklären kann. Der Widerspruch mit der Wirklichkeit und die Vielfalt der Lebenserscheinungen veranlassten Baudisch dazu, den Ansatz von Hamilton in Frage zu stellen. Ohne Hamiltons Gedankengerüst zu verlassen, zeigt sie, dass eine kleine Änderung der Annahmen entscheidende Konsequenzen haben kann. Während Hamilton davon ausging, dass sich die Mutationen im Alter additiv auf das Sterberisiko auswirken müssen, geht Baudisch von proportionalen Effekten der Mutationen aus. Baudisch zeigt, dass bei der proportionalen Wirkung der Mutationen die Kraft der Selektion über den Verlauf des Lebens nicht, wie von Hamilton behauptet, unvermeidlich abnehmen muss, sondern dass diese Kraft auch steigen kann. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn der Fortpflanzungserfolg über einen langen Zeitraum zunimmt - wie im Falle eines Baumes. Somit wäre nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass mit zunehmendem Alter ein Selektionsdruck wirkt, der schädlichen Mutationen mehr und mehr entgegenwirken kann – was wiederum einen verzögerten oder sogar angehaltenen Alterungsprozess zur Folge hätte. Zu der Einbahnstraße des zwangsläufigen Alterungsprozesses nach dem Beginn der reproduktiven Lebensphase bieten sich also in dieser veränderten Fassung des Hamilton-Modells eine Reihe von Umgehungsstraßen, die unter bestimmten Bedingungen, in bestimmten Lebensphasen und von verschiedenen Lebensformen eingeschlagen werden können.

Die Natur ist vielfältig, und die sich auf Hamilton stützende Mutations-Akkumulations-Theorie konnte dieser Vielfalt an Mortalitäts- und Fertilitätsmustern nicht Rechnung tragen. Der Artikel von Baudisch ruft dazu auf, den von Hamilton eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen und seinen Ansatz mit evolutionären Optimierungsmodellen zu verbinden, um alternative Erklärungen für die Vielfalt an demografischen Mustern zu finden.

Über das MPIDR

Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen. Die Wissenschaftler*innen des Instituts erforschen politikrelevante Themen wie den demografischen Wandel, Altern, Geburtendynamik und die Verteilung der Arbeitszeit über die Lebensspanne, genauso wie den digitalen Wandel und die Nutzbarmachung neuer Datenquellen für die Erforschung von Migrationsströmen. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt international zu den Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört der Max-Planck-Gesellschaft an, der weltweit renommierten deutschen Forschungsgemeinschaft.

Original-Publikation

Baudisch, B.: Hamilton's indicators of the force of selection. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 102(2005)23, 8263-8268. DOI:10.1073/pnas.0502155102

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