01/2024 - Interview mit Diego Alburez-Gutierrez
“Wir haben die Verantwortung, die Öffentlichkeit zu erreichen”
Diego Alburez-Gutierrez gewinnt den European Demographer Award – eine besondere Auszeichnung für den Wissenschaftler, der am Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) die Forschungsgruppe "Ungleichheiten in Verwandtschaftsbeziehungen" leitet. In einem exklusiven Interview spricht Diego darüber, was seine Forschung antreibt, was wir von ihm über Gewalt und Krieg lernen können, und wie sich unser Familienleben in Zukunft verändern wird.
Diego Alburez-Gutierrez. © MPIDR | Fotostudio Hagedorn Rostock
Diego, wir sitzen hier in deinem Büro im Max-Planck-Institut für demografische Forschung, mit einem netten Blick auf die Warnow. Du bist hier Leiter der Forschungsgruppe für Verwandtschaftsungleichheiten, hast mehrere Preise und Auszeichnungen erhalten, und bald wird ein neuer Preis in deinem Regal hinzukommen: der European Demographer Award. Der wird an junge und vielversprechende Wissenschaftler*innen vergeben. Du hast bereits viele Schritte auf deiner Karriereleiter genommen, lass uns mal zur ersten Stufe zurückgehen. Warum interessierst du dich überhaupt für Demografie?
Ich bin in Guatemala in einer sehr ungleichen Gesellschaft aufgewachsen - in einem instabilen System, das von Korruption geprägt war. Die Erfahrung von Krieg und Gewalt ist dort noch weit verbreitet. Vor allem unter den indigenen Völkern des Landes, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Ich habe Anthropologie studiert, aber das Studium ist ganz anders als in Deutschland. Wir haben kein wirklich gut entwickeltes akademisches System. Deshalb sind die Sozialwissenschaften sehr stark mit Aktivismus verbunden, weil die Studierenden versuchen, diese Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten unter der indigenen Bevölkerung zu dokumentieren. So bin ich auch dazu gekommen. Gleichzeitig hat mich Literatur inspiriert. Vor allem Romane, die eine Familie durch die Zeit oder über Generationen hinweg begleiten. "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez zum Beispiel habe ich als Kind gelesen, das Werk beeinflusst mich bis heute.
Auch dein erstes großes Projekt beschäftigte sich mit Familienstrukturen. Du hast deine Doktorarbeit über die Auswirkungen des Völkermords an den Maya Achi geschrieben, in der Region Río Negro in Guatemala in den 1980er Jahren. Ein Drittel der indigenen Bevölkerung wurde getötet.
Ich wollte verstehen, wie sich dieser Völkermord auf die überlebenden Familienmitglieder, die Sterblichkeit und die Fertilität auswirkte. Ursprünglich lebte in der Region das Volk der Maya-Achi an einem Fluss. Die Regierung wollte genau dort einen Staudamm für ein Wasserkraftwerk bauen und versuchte, die Maya Achi umzusiedeln, die sich dagegen wehrten. Also hat die Regierung, eine Militärdiktatur, diese Massaker verübt, um die Menschen zur Umsiedlung zu zwingen, dann haben sie das Kraftwerk gebaut. Es ist immer noch die größte Energiequelle des Landes. Jedes Mal, wenn jemand das Licht einschaltet, nutzt er die Energie des Kraftwerks. Und kaum jemand kennt die Geschichte dahinter.
Hat deine Forschung daran etwas geändert oder hat sie dem Thema öffentlich Aufmerksamkeit beschert?
Das würde ich nicht sagen. Aber als Forscher*innen haben wir auch die Verantwortung, die Öffentlichkeit zu erreichen, die aber nicht unbedingt wissenschaftliche Zeitschriften liest. Eines der Projekte, an denen ich deshalb in letzter Zeit gearbeitet habe, ist ein populärwissenschaftliches Buch. Ich hoffe, dass es viele Leute lesen werden. Das Buch wird auf meinen Forschungsergebnissen basieren, aber ich werde wahrscheinlich keine komplizierten Diagramme brauchen, um die Botschaft zu vermitteln.
Du hast für deine Doktorarbeit ein Jahr lang vor Ort Interviews mit Überlebenden des Völkermords geführt – hat sich deine Forschung auf dich persönlich emotional ausgewirkt?
Das hatte einen großen Einfluss auf mich. Ich habe viel weniger auf mein eigenes geistiges und emotionales Wohlbefinden geachtet, als ich es hätte tun sollen. Ich fühlte mich oft überwältigt und hoffnungslos, wenn ich die Berichte der Überlebenden hörte. Ich meine, ich hatte all diese Ressourcen, ich hatte Kontakt zu Organisationen, die den Menschen, mit denen ich arbeitete, Unterstützung geben konnten, wenn sie sie brauchten. Aber ich habe nicht das Gleiche für mich selbst getan. Und das hätte ich tun sollen. Ich nehme das als Lernerfahrung und versuche jetzt, da ich selbst Doktorand*innen betreue, besonders auf ihre psychische Gesundheit zu achten.
Gleichzeitig hast du dich weiterentwickelt und deine Forschung auch. Woran arbeitest du aktuell?
In meiner Doktorarbeit habe ich viele empirische Daten verwendet, die ich selbst gesammelt habe, aber sie bezogen sich nur auf Menschen in Guatemala. Ich wollte diese Art von Forschung fortsetzen und Familien und Verwandtschaftsstrukturen in verschiedenen Umgebungen untersuchen. Jetzt verwende ich demografische Modelle, um Familien weltweit zu erforschen. Mit diesen Modellen kann ich die Strukturen in verschiedenen Ländern auf einer grundlegenden Ebene untersuchen, zum Beispiel in Lateinamerika, Südostasien oder Südafrika.
Für einen Zeitungsartikel hast du berechnet, wie viele Großeltern es weltweit gibt und was es für Familien bedeutet, wenn es immer mehr Großeltern gibt. Ist das die Art von Forschung, von der du sprichst? Wirfst du einen Blick in die Zukunft, um zu sehen, wie sich die Familien weltweit entwickeln werden?
Ja, wenn wir in die Zukunft blicken, sehen wir, dass die Familien weltweit kleiner werden, was die Anzahl der Verwandten betrifft, die die Menschen haben. Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Familien in ihrer Form sozusagen vertikaler werden. Das bedeutet, dass die Menschen wahrscheinlich weniger Geschwister, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen haben werden. Der Familienbaum ähnelt also eher einem Stock. Und die dritte Erkenntnis ist, dass der Altersunterschied zwischen Verwandten zunehmen wird, vor allem, weil es sich dabei hauptsächlich um Eltern und Großeltern handeln wird.
Kannst du sagen, welche Folgen das haben wird?
In Deutschland kannst du deine Familie um Hilfe bitten, wenn du ein Kind erziehst, gleichzeitig gibt es viele Institutionen und Organisationen, die Hilfe anbieten. Ein privates Unternehmen oder der Staat können dich bei der Betreuung deines Kindes oder auch eines älteren Angehörigen unterstützen. In vielen Teilen der Welt gibt es diese Organisationen nicht, und die Menschen sind allein auf ihre Familie angewiesen. Daraus folgt, wenn die Familien immer kleiner werden, dass Verwandte keine verlässliche Unterstützung mehr sein können. Das erhöht den Druck auf Einzelne. Eine unserer Empfehlungen lautet daher, dass die Länder mehr in diese Ressourcen und Dienstleistungen investieren sollten. Deshalb ist die Arbeit meiner Forschungsgruppe so wichtig, da sie die Familie auf eine andere Art und Weise betrachtet.
Wie meinst du das?
Normalerweise liegt der Schwerpunkt auf Paaren und ihren Kindern oder Einzelpersonen, die in einem Haushalt zusammenleben. Wir beziehen jedoch auch mehrere Generationen ein, z. B. Großeltern oder Geschwister – unabhängig davon, ob sie zusammenleben oder nicht. Auf diese Weise erhalten wir einen Einblick in die Herausforderungen, mit denen die Bevölkerung insgesamt konfrontiert ist.
Und du hoffst, die politischen Entscheidungsträger mit dem Gesamtbild zu erreichen?
Die Kernaussage ist, dass wir durch die Analyse von Familienprozessen umsetzbare Erkenntnisse gewinnen können, die wir versuchen, dem entsprechenden Publikum effektiv zu vermitteln.
Diego Alburez-Gutierrez und sein Team bei der Verteidigung der Doktorarbeit von Bettina Hünteler mit Amanda Martins und Andrea Colasurdo (von links nach rechts). © Privat
Apropos das große Ganze: Du leitest die Gruppe „Ungleichheiten in Verwandtschaftsbeziehungen" und betreust Postdocs und Doktorand*innen. Wie unterscheidet sich deine Arbeit als Leiter von der als Forscher?
Als Leiter einer Forschungsgruppe lerne ich immer wieder, wie wichtig es ist, über den Tellerrand hinauszuschauen. Als ich allein an meinen Projekten gearbeitet habe, habe ich mich darauf konzentriert, meine eigenen Forschungsfragen zu beantworten. Jetzt trete ich einen Schritt zurück und arbeite mit anderen zusammen, die andere Hintergründe und Fachgebiete haben, die meine Arbeit aber ergänzen. Ich habe immer noch meine eigenen Forschungsprojekte, aber ich arbeite an keinem mehr allein. Und natürlich verbringe ich mehr Zeit damit, die Projekte meiner Studierenden und ihre Interessen zu diskutieren. Sie sind in der Regel sehr motiviert, und ich lerne viel aus der Zusammenarbeit mit ihnen.
© Privat
Der European Demographer Award ist also nicht nur eine Auszeichnung für dich, sondern für dein gesamtes Team?
Ich denke schon. Es ist wichtig, der Großfamilie wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. In den letzten Jahren wurde sie in der Demografie etwas vernachlässigt. Jetzt haben wir die Instrumente und Daten, um Prozesse zu untersuchen, die über die Kernfamilie hinausgehen. Ein Teil meiner Arbeit mit der Gruppe besteht darin, eine Gemeinschaft von Forscher*innen und Studierenden aufzubauen, die diese Art von Analyse durchführen können. Wir haben zahlreiche Schulungen, Workshops und Vorträge auf Konferenzen abgehalten, Universitäten in verschiedenen Ländern besucht und Menschen aus verschiedenen Ländern an das Max-Planck-Institut für demografische Forschung eingeladen, um zu lernen, wie man diese Instrumente benutzt.
Diego Alburez-Gutierrez interviewing residents. © Privat
Wenn ich mir dein Profilbild in den sozialen Medien ansehe, sehe ich dich mit Anfang 20, mit einem Stift und einem Notizbuch in den Händen, und hinter dir ein Kind, die du wahrscheinlich gerade interviewst. Ich habe vermutet, dass das der beste Teil deines Jobs ist? Mit Leuten zu reden, Dinge aufzuschreiben, Schlussfolgerungen zu ziehen?
Ja, schon. Und Geschichten zu erzählen, das macht mir am meisten Spaß. Wenn man die Geschichte, die man erzählen will, nicht spannend erzählen kann, läuft man Gefahr, die Botschaft zu verlieren. Und ich verbringe viel Zeit damit, Dinge zu schreiben, die eine klare Handlung haben und leicht zu lesen sind, auch wenn das Thema schwierig ist.
Das Gespräch führte Katharina Elsner, freie Journalistin.