11. August 2020 | News | Interview

Fertilität in Europa: Bildung von Frauen in wirtschaftlich entwickelten Regionen weniger einflussreich

In den wirtschaftlich hoch entwickelten europäischen Regionen haben Frauen mit unterschiedlichem Bildungsniveau eine ähnlichere Zahl Kinder, als Frauen mit unterschiedlichem Bildungsniveau in weniger entwickelten Regionen. © iStockphoto.com/South_agency

Jessica Nisén, Forscherin im Arbeitsbereich Fertilität und Wohlbefinden, untersuchte den Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Zahl Kinder pro Frau, dem Ausbildungsgrad der Frauen und der wirtschaftlichen Entwicklung auf regionaler Ebene in 15 europäischen Ländern. In diesem Interview erklärt sie, wie sich diese drei Faktoren gegenseitig beeinflussen, warum sie sich mit dem Thema beschäftigt hat und warum Registerdaten eine wertvolle Quelle sind.

 

Frau Nisén, Sie haben die Fertilität von Frauen in verschiedenen europäischen Regionen untersucht. Dabei beleuchten Sie den Zusammenhang zwischen dem Bildungsabschluss der Frauen, der wirtschaftlichen Entwicklung der Region, in der die Frauen leben, und der durchschnittlichen Zahl der Kinder, die sie im Laufe ihres Lebens bekommen. Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer vor kurzem veröffentlichten Studie?

Im Allgemeinen unterstreichen unsere Ergebnisse die Variabilität der Bildungsgradienten bei der Fertilität von Frauen. Sie legen nahe, dass bessere wirtschaftliche Entwicklung mit weniger negativen Bildungsgradienten verbunden sein können. Das bedeutet, dass in den wirtschaftlich höher entwickelten Regionen Frauen mit unterschiedlichem Bildungsniveau bezogen auf ihre Kinderzahl ähnlicher sind als Frauen mit unterschiedlichem Bildungsniveau in weniger entwickelten Regionen. Diese Tendenz ist sowohl innerhalb der Länder als auch im Vergleich zwischen den Ländern zu beobachten.

Gibt es Unterschiede zwischen den Ländern?

Ja. Nicht alle europäischen Länder zeigen diese Tendenz. Am stärksten sehen wir den Zusammenhang zwischen regionaler Entwicklung und Bildungsgradient in den mittel- und osteuropäischen Ländern.

Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?

Gern: Frauen in Ungarn mit hohem Bildungsniveau in der wirtschaftlich am höchsten entwickelten Region haben nur 0,04 weniger Kinder als Frauen mit mittlerem Bildungsniveau. In den anderen ungarischen Regionen haben Frauen mit hohem Bildungsniveau 0,13  Kinder weniger, als Frauen mit mittlerem Bildungsniveau. In Belgien sieht es anders aus. Dort haben Frauen mit hohem Bildungsniveau in der am höchsten entwickelten Region 0,06 weniger Kinder als Frauen mit mittlerem Bildungsniveau. In den anderen belgischen Regionen haben sie aber 0,11 mehr Kinder als Frauen mit mittlerem Bildungsniveau.

In ost- und mitteleuropäischen Ländern wie Ungarn und Litauen sind Frauen, die eine Universität besucht haben, in ihrer Kinderzahl den Frauen mit Berufsausbildung ähnlicher, wenn sie in der wirtschaftlich am höchsten entwickelten Region des Landes leben. Eine ähnliche Tendenz ist auch in einigen anderen europäischen Ländern zu beobachten. © MPIDR

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Sie haben also festgestellt, dass es Unterschiede zwischen den westeuropäischen Ländern und den mittel- und osteuropäischen Ländern gibt. Ist dies einer der Gründe, warum Sie sich mit diesem Thema beschäftigt haben?

Nicht ganz. Der Ausgangspunkt unserer Studie war, zum ersten Mal Bildungsunterschiede bei der Kohorten-Fertilitätsrate auf der subnationalen, regionalen Ebene darzustellen. Zudem wollten wir durch die Untersuchung der regionalen Muster, nationale Muster besser verstehen.

Warum war dieser spezifische Blick auf europäische Regionen für Sie besonders interessant?

Ich finde es interessant, dass es auch auf der subnationalen, regionalen Ebene Unterschiede gibt. Das zeigt uns, dass die Bildungsgradienten bezogen auf die Fertilität von Frauen nicht in Stein gemeißelt sind, sondern je nach Zeit und Ort variieren. Dies deutet darauf hin, dass kontextuelle Faktoren dafür wichtig sind, dass ein Zusammenhang zwischen Bildung und der Kinderzahl von Frauen entsteht oder auch fehlt. Unsere Ergebnisse tragen zudem dazu bei, zu erklären, warum die Gesamtfertilität seit einiger Zeit in gut entwickelten Regionen Europas relativ hoch war: Der Anteil der Frauen mit hohem Bildungsniveau ist in wirtschaftlich gut entwickelten Regionen besonders hoch.

Sehen Sie methodische Beschränkungen für diese Art von Studie?

Auf regionaler Ebene können auch die Binnenmigration zwischen den Regionen und Unterschiede in der Bevölkerungszusammensetzung zwischen den Regionen zu solchen Schwankungen führen, wie wir sie in der Studie beobachten. Deshalb können wir mit diesem Paper keine Mechanismen validieren. Wir können keine Aussagen darüber treffen, welche Rolle verschiedene Faktoren für die Fertilität spielen, wir haben lediglich Muster beschreiben.

Diese Studie ist entstanden als Gemeinschaftsprojekt von Forschenden aus ganz Europa, die administrative Datenquellen in ihrer Arbeit über Fertilität und Familiendemografie nutzen. Wie genau sah die Zusammenarbeit aus?

Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) gründete 2016 ein Netzwerk für Forschende, die Fertilität mit Registerdaten untersuchen. Diese Studie ist ein Ergebnis dieser Initiative: Sie basiert auf Daten aus Bevölkerungsregistern, Volkszählungen und Großstichprobenerhebungen aus 15 europäischen Ländern. In skandinavischen Ländern stehen der demografischen Forschung diese Art von Daten schon lange zur Verfügung, neu dazugekommen sind Belgien und die Niederlande. Um Geburtenmuster zu untersuchen, sind Registerdaten für die Forschung besonders wertvoll. Denn sie sind in der Regel sehr zuverlässig und erlauben Studien für Teile der Bevölkerung in Längsschnittperspektive.

Originalpublikation

Nisén, J., Klüsener, S., Dahlberg, J., Dommermuth, L., Jasilioniene, A., Kreyenfeld, M., Lappegård, T., Li, P., Martikainen, P., Neels, K., Riederer, B., te Riele, S., Szabó, L., Trimarchi, A., Viciana, F., Wilson, B., Myrskylä, M.: Educational differences in cohort fertility across sub-national region in Europe. European Journal of Population. (2020) DOI 10.1007/s10680-020-09562-0

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Autorin der Studie

Wissenschaftlerin im Arbeitsbereich Fertilität und Wohlbefinden

Jessica Nisén

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Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock ist eines der international führenden Zentren für Bevölkerungswissenschaft. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften.