26. April 2023 | News | Interview

Internationaler Vergleich: Lebenserwartung in Deutschland unterdurchschnittlich

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Die MPIDR-Forschenden Domantas Jasilionis und Alyson van Raalte sowie Pavel Grigoriev und Sebastian Klüsener vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) haben in ihrer kürzlich im European Journal of Epidemiology veröffentlichten Studie die Entwicklung der Lebenserwartung in Deutschland näher beleuchtet. In diesem Interview erläutern Domantas und Alyson ihre Ergebnisse.

Dr. Jasilionis, was haben Sie bei der Analyse der Lebenserwartung in Deutschland im Vergleich zu 15 anderen europäischen Ländern, den USA und Japan festgestellt?

DJ: Die Lebenserwartung in Deutschland liegt weit unter dem, was wir für ein wohlhabendes, westeuropäisches Land erwarten würden, und das schon seit langem. 2019, im Jahr vor Beginn der Covid-19-Pandemie, lag Deutschland beim Vergleich der Lebenserwartung von Männern auf Platz 14 von 15 "alten" EU-Mitgliedstaaten, knapp vor Portugal. Bei der Lebenserwartung von Frauen lag Deutschland auf Platz 13 von 15, noch vor dem Vereinigten Königreich und Dänemark. Seit der Wiedervereinigung ist der Abstand zu den weltweiten Spitzenreitern in Sachen Lebenserwartung, wie Japan oder der Schweiz, bei etwa drei bis vier Jahren stehen geblieben. Das ist erstaunlich, denn Deutschland hat eine leistungsstarke Wirtschaft, ein gerechtes und fortschrittliches Gesundheitssystem und ein gut ausgebautes Sozialversicherungssystem.

Dr. van Raalte, Sie haben versucht, das Rätsel zu lösen, warum es Deutschland nicht gelungen ist, sich bei der Lebenserwartung anderen Ländern anzunähern.

AvR: Ja, wir haben uns Deutschland angeschaut, weil die Entwicklung der Lebenserwartung in den USA und im Vereinigten Königreich seit Jahren im Mittelpunkt des Interesses steht. Zu Recht, denn dort weicht die Lebenserwartung zunehmend von anderen Ländern mit hohem Einkommen ab. Deshalb lag die ganze Aufmerksamkeit auf den gemeinsamen Faktoren, die diesen beiden englischsprachigen und eher liberal orientierten Volkswirtschaften eigen sind. Niemand hat sich mit den dauerhaften Nachzüglern wie Deutschland befasst. Wir haben festgestellt, dass der breitere deutsche Kontext nicht so recht in diese Diskussionen über die sozialen Faktoren der Gesundheit passen will. In Deutschland gibt es keine opioid-bedingte Sterblichkeitskrise. Es wurden in den vergangenen Jahren keine größeren Sparprogramme eingeführt. Die regionalen Sterblichkeitsunterschiede sind gering, zumindest im Vergleich zu anderen Ländern. Die Gesundheitsversorgung ist gerecht, gut finanziert und auf dem neuesten Stand der Technik. Das Gesundheitsverhalten der Deutschen ist im internationalen Vergleich zwar nicht vorbildlich, liegt aber nicht weit außerhalb der Norm. Die Übersterblichkeit durch Rauchen, Übergewicht und übermäßigen Alkoholkonsum erklärt nicht den Unterschied in der Lebenserwartung zu anderen Ländern.

Welche Gründe gibt es dann dafür?

AvR: Bei dem Versuch, ein tieferes Verständnis für die zu niedrige deutsche Lebenserwartung jenseits der Todesursachen zu erlangen, sind wir gegen eine Wand gelaufen. Die Daten, die wir zur Überprüfung unserer Ideen benötigen würden, sind einfach nicht vorhanden. Nehmen wir als Beispiel Bluthochdruck. Testen die Deutschen ihren Blutdruck genauso oft wie Menschen in benachbarten Ländern? Wenn sie hohen Blutdruck haben, nehmen sie dann Medikamente? Einige Studien stellen die These auf, die Deutschen kämen zu spät ins Krankenhaus, in schlechtem Gesundheitszustand und mit zahlreichen Begleiterkrankungen. Die Daten für dieses Argument sind jedoch lückenhaft und beruhen oft auf kleinen Erhebungen in einer Handvoll Städten, die dann extrapoliert werden, um nationale Schätzungen für internationale Datenbanken wie die der OECD zu erhalten. Wir brauchen wirklich international vergleichbare Daten über die Einnahme von verschreibungspflichtigen Medikamenten, medizinische Maßnahmen und Gesundheits-Biomarker, die nach Alter und Geschlecht aggregiert sind, national repräsentativ sind und kontinuierlich erhoben werden.

Wie können politische Entscheidungsträger*innen in Deutschland sicherstellen, dass die Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung steigt?

DJ: In diesem Beitrag geht es nicht um die schlechte Leistung Deutschlands, sondern vielmehr darum, dass Deutschland angesichts zahlreicher Vorteile in anderen sozioökonomischen und gesundheitlichen Bereichen viel besser abschneiden könnte. Die höhere Lebenserwartung in den Vorreiterländern zeigt jedoch, dass es für Deutschland noch viel Spielraum gibt, um die Gesundheit seiner Bevölkerung weiter zu verbessern. Doch obwohl das gut ausgestattete deutsche Gesundheitssystem in Zeiten der Covid-19-Pandemie eine bessere Leistungsfähigkeit gewährleistet hat, scheint es erhebliche zusätzliche Anstrengungen zu erfordern, um sicherzustellen, dass sich die Lebenserwartung in Deutschland derjenigen der Länder mit der höchsten Lebenserwartung annähert. Es liegt auf der Hand, dass Deutschland sich in erster Linie auf die Bekämpfung der sehr hohen Belastung durch vorzeitige Erkrankung und Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen konzentrieren sollte. Dazu müsste Deutschland seine gesundheitspolitischen Maßnahmen und Präventionsbemühungen verstärken und die Effizienz der Primärversorgung insgesamt erhöhen.

Originalpublikation

Jasilionis, D., van Raalte, A., Klüsener, S., Grigoriev, P.: The underwhelming German life expectancy. European Journal of Epidemiology (2023). DOI: 10.1007/s10654-023-00995-5

Autor*innen und Institutionen

Domantas Jasilionis, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Alyson A. van Raalte, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Sebastian Klüsener, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), Wiesbaden

Pavel Grigoriev, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), Wiesbaden

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