19. Oktober 2017 | News | Neue Veröffentlichung

Wer geht noch vor den Traualtar?

© daarta / photocase.com

Im Osten Deutschlands sind Frauen ökonomisch unabhängiger und nichteheliche Geburten häufiger

(Der folgende Text basiert auf dem Originalartikel Why are marriage and family formation increasingly disconnected across Europe? A multilevel perspective on existing theories des MPIDR-Forscher Sebastian Klüsener und ist mit kleineren Änderungen ebenfalls erschienen in der Ausgabe 2/2017 der vierteljährlichen Reihe Demografische Forschung Aus Erster Hand.)

Bis in die 1960er Jahre herrschte in fast ganz Europa das „goldene Zeitalter der Ehe“: Wer eine Familie gründen wollte, ging vorher selbstverständlich zum Standesamt. Wie oft das heute noch vorkommt, hängt laut einer Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung vom Land, vom sozialen Status und von der ökonomischen Selbständigkeit der Frau ab.

Über die Ehe wurde in den vergangenen Monaten in Deutschland viel diskutiert: Wozu ist sie da, wen soll sie schützen, und was hat das Ganze mit Kindern zu tun? Tatsächlich sind Eheschließung und Familiengründung in vielen Ländern Europas längst nicht mehr so eng aneinander gekoppelt wie in den 1950ern und 1960ern. Damals herrschte in Europa ein „goldenes Zeitalter der Ehe“: Fast jeder, der damals eine Familie gründen wollte, ging vorher selbstverständlich zum Standesamt. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Viele Paare heiraten heute erst nach der Geburt gemeinsamer Kinder oder verzichten ganz auf die Ehe.
 

Tab 1: In Ländern mit einer hohen Religiosität und einer schlechteren Stellung der Frau auf dem Arbeitsmarkt ist bei zusammenlebenden Paaren der Anteil nichtehelicher Erstgeburten geringer (Zahlen beziehen sich auf den Untersuchungs­zeitraum). Quelle: Harmonized Histories, Generations and Gender Survey, Generations and Gender Contextual Database, European Social Survey, European Value Survey, eigene Berechnungen.

Warum die Ehe bei der Familiengründung anschei­nend immer unwichtiger wird und welche Faktoren diesen Prozess steuern, untersuchen Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, Trude Lappegård von der Universität Oslo und Daniele Vignoli von der Uni-versität Florenz. Sie haben dafür harmonisierte Umfragedaten aus 16 europäischen Ländern aus-gewertet, die unter anderem Informationen über Geburten, Religiosität, soziale und ökonomische Faktoren sowie die Bildung der einzelnen Mütter beinhalten (s. Tab. 1).

Die repräsentative Studie betrachtet Frauen, die in einer ehelichen oder nichtehelichen Partnerschaft leben und zwischen 2000 und 2007 ihr erstes Kind bekommen haben. Die Daten zeigen erhebliche Unterschiede in Europa auf. So liegt in Norwegen und Estland der Anteil der nichtehelichen Erstgeburten bei 60 Prozent. 
Auch in Frankreich, Österreich, Großbritannien und Belgien ist der Anteil vergleichsweise hoch, während er etwa in Polen und Italien noch sehr niedrig ist (s. Tab. 1 und Abb. 1). Inwieweit unterschiedliche soziale Einstellungen und wirtschaftliche Faktoren in den Ländern und Regionen dabei eine Rolle spielen, überprüften die Autoren der Studie zudem mit Hilfe offizieller Statistiken und Daten anderer Umfragen.

Bisherige Studien zum Anstieg nichtehelicher Geburten kommen im Wesentlichen zu zwei Erklärungen, die sich auf den ersten Blick widersprechen. Einige Wissenschaftler halten den Anstieg für eine fortschrittliche Entwicklung, die etwa durch die zunehmende wirtschaftliche Selbstständigkeit von Frauen und eine stärkere Individualisierung getragen wird. Ist eine Frau von ihrem Partner wirtschaftlich abhängig, bietet die Ehe eine finanzielle Absicherung, wenn es zu einer Trennung kommt oder der Partner stirbt. Solche ökonomischen Aspekte der Eheschließung verlieren aber an Bedeutung, wenn beide Partner voll erwerbstätig sind und es staatliche Unterstützungsleistungen für Einzelpersonen gibt, die in Notsituationen geraten sind. Parallel dazu wenden sich viele Menschen von traditionellen und religiösen Normen ab, denen zufolge Geburten in der Ehe erfolgen sollten.

Auf Basis dieser fortschrittsbasierten Überlegungen könnte man erwarten, dass die oberen Gesellschaftsschichten Vorreiter beim Anstieg der nichtehelichen Geburten wären. In vielen Ländern ist aber
genau das Gegenteil der Fall: Es sind gerade die unteren Bildungsschichten, in denen nichteheliche Geburten  verbreitet sind. Dieser Befund ist zentral für alternative Erklärungsansätze, die den Anstieg der nichtehelichen Geburten als eine negative Entwicklung ansehen, welche durch die gestiegene ökonomische Unsicherheit in den unteren Schichten getragen wird.

Abb 2: Fortschrittliche Länder mit einer hohen ökonomischen Selbstständigkeit von Frauen haben einen höheren Anteil nichtehelicher Geburten. Auf individueller Ebene gilt dagegen: Frauen mit hoher Bildung bekommen ihre ersten Kinder häufiger in einer Ehe als Frauen mit niedriger Bildung (Modell enthält weitere Kontrollvariablen). Quelle: Harmonized Histories (Generations and Gender Survey und andere Umfragen), eigene Berechnungen. Signifikanzniveaus: #p < 0,1; *p < 0,05; **p < 0,01 ***p < 0,001

Sebastian Klüsener und seine Mitautoren präsentieren in ihrer Studie einen Erklärungsansatz, der die Widersprüche der beiden Theorien zu überwinden versucht: Demnach sind beide Erklärungsansätze für das Verständnis des Anstiegs der nichtehelichen Geburten wichtig; ihr Bedeutungsgrad ist aber abhängig davon, ob Unterschiede zwischen Ländern, Regionen oder Individuen betrachtet werden. Um etwa erklären zu können, warum viele hoch entwickelte nord- und westeuropäische Länder Vorreiter beim Anstieg der nichtehelichen Geburten sind, scheint der Ansatz wichtig zu sein, welcher die Tendenz als fortschrittliche Entwicklung auffasst. In Ländern, in welchen Frauen höhere ökonomische Selbstständigkeit aufweisen, bekamen deutlich mehr zusammenlebende Paare ihr erstes Kind außerhalb der Ehe. Letztgenanntes gilt auch für Länder, in welchen die Menschen weniger religiös sind.

Die alternative Erklärung für den Anstieg nichtehelicher Geburten, welche erhöhte ökonomische Unsicherheit als primäre Ursache ansieht, ist dagegen nur wenig geeignet, Unterschiede zwischen den Ländern zu erklären. So ergab sich in den Modellen kein Zusammenhang zwischen dem Niveau der Arbeitslosigkeit in einem Land und der Wahrscheinlichkeit einer nichtehelichen Erstgeburt. Wenn man aber Unterschiede zwischen einzelnen Individuen innerhalb von Ländern be-trachtet, ist der alternative Erklärungsansatz sehr hilfreich. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine gut gebildete Frau ihr erstes 
Kind außerhalb der Ehe zur Welt bringt, ist der Studie zufolge nur halb so hoch wie bei Frauen mit geringer Bildung (s. Abb. 2). Auf regionaler Ebene konnten die Autoren auch feststellen, dass nichteheliche Geburten in Regionen mit höherer Arbeitslosigkeit wahrscheinlicher sind.

Abb 1: Große Unterschiede in Europa: Ob vor der Geburt des ersten Kindes geheiratet wird, hängt auch stark vom Wohnort ab. Quelle: Harmonized Histories (Generations and Gender Survey und andere Umfragen), eigene Berechnungen. Basiskarte: Max­Planck­Institut für demografische Forschung und Lehrstuhl für Geodäsie und Geoinformatik (2017), Grenzen überwiegend basierend auf Eurogeographics. Die Abbildung in der oberen rechten Ecke zeigt die Dichtekurve für die 116 abgebildeten Regionen.

Die Ergebnisse können auch zum Verständnis der erheblichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland bei den nichtehelichen Geburten beitragen. In Ostdeutschland lag der Anteil der nichtehelichen Geburten im Jahr 2015 bei 60%, in Westdeutschland ist er mit 30% gerade einmal halb so hoch. Dieser enorme Unterschied ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass es in der Umbruchsphase nach der Wiedervereinigung im Osten zu einem starken Anstieg der nichtehelichen Geburten kam. Dies scheint aber nicht der alleinige Faktor zu sein. Laut Ansicht der Forscher ist der hohe Anteil nichtehelicher Geburten im Osten auch ein Erbe der deutschen Teilung: Bis heute ist die Stellung der Frau auf dem Arbeitsmarkt hier deutlich besser als im Westen. Dazu trägt auch der bessere Zugang zu Kinderbetreuung bei. Daher ist nicht zu erwarten, dass die momentan verzeichnete Angleichung des ost- und westdeutschen Arbeitslosigkeitsniveaus auch zu einer Angleichung der Unterschiede bei den nichtehelichen Geburten führen wird. 

Mitautor der wissenschaftlichen Studie:
Sebastian Klüsener

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Original-Artikel: Why are marriage and family formation increasingly disconnected across Europe? A multi-level perspective on existing theories, Lappegård, T., Klüsener, S., Vignoli, D., Population, Space and Place, Early View (2017), DOI:10.1002/psp.2088

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