13. Mai 2022 | News | Interview

Wie man die Übersterblichkeit so berechnet, dass man die Folgen der Pandemie richtig abschätzt

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Übersterblichkeit ist ein häufig verwendetes Maß um die Sterblichkeit durch die Pandemie einzuschätzen. Marília Nepomuceno, Dmitri Jdanov und Kolleg*innen haben die Faktoren untersucht, die dieses Maß beeinflussen. Im Interview erklären sie, warum die Übersterblichkeitsraten beim Wechsel von Daten und Methoden erheblich schwanken, und geben Empfehlungen für eine bessere Berechnung der Übersterblichkeit.

Frau Dr. Nepomuceno, Herr Dr. Jdanov, in Ihrer aktuellen Studie haben Sie Faktoren untersucht, die Einfluss auf die Berechnung der Übersterblichkeit haben. Welche sind das?

Marília Nepomuceno (MN): Wir haben die Auswirkungen von vier Faktoren untersucht:

  • Mortalitätsindex
  • Methode
  • Referenzzeitraum
  • Zeiteinheit der Todesfallreihe

Wir zeigen, dass all diese Faktoren eine Rolle spielen, wenn auch eine unterschiedlich große.

Der Mortalitätsindex berücksichtigt den Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung. Wie wirkt sich der Index auf die Übersterblichkeit aus, besonders während der COVID-19-Pandemie?

Dmitri Jdanov (DJ): Unterschiede in der Altersstruktur der Bevölkerung sind wichtig, wenn man die Sterblichkeitsniveaus von Bevölkerungen vergleicht oder die Übersterblichkeit in einer bestimmten Bevölkerung berechnet. Ein höherer Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung zusammen mit der höheren COVID-19-Sterblichkeit Älterer führte während der Pandemie zu höheren Übersterblichkeitsraten bei der älteren Bevölkerung. Italien ist ein gutes Beispiel für dieses Phänomen, da seine Gesellschaft zu den ältesten der Welt gehört. Die Position Italiens in der Rangliste der Länder mit der höchsten Übersterblichkeit hängt davon ab, welcher Mortalitätsindex verwendet wurde, um die Altersstruktur zu berücksichtigen.

Sie haben auch einen Blick auf den Referenzzeitraum geworfen. Das sind die Anzahl der Vorjahre, deren Sterblichkeitsraten zur Berechnung des erwarteten Sterblichkeitsniveaus, der so genannten Baseline, verwendet werden. Warum zeigen Ihre Ergebnisse, dass längere Referenzzeiträume in den meisten Ländern zu einer geringeren Übersterblichkeit führen?

DJ: Die Baseline ist ein Referenzwert für diejenige Sterblichkeit, die ohne die Pandemie aufgetreten wäre. Sie spiegelt so genau wie möglich die bisherige Sterblichkeitsentwicklung im Bezugszeitraum wider. Viele Studien zur Übersterblichkeit während der COVID-19-Pandemie haben den Bezugszeitraum 2015-2019 willkürlich gewählt. In unserem Paper zeigen wir, dass die Berechnung der Übersterblichkeit empfindlich auf die Wahl der Anzahl der Jahre im Referenzzeitraum reagiert. In Ländern, in denen die Sterblichkeit in den vergangenen Jahren stärker zurückgegangen ist, wird die für 2020 erwartete Sterblichkeitsrate für den Referenzzeitraum 2017 bis 2019 niedriger sein als für einen längeren Zeitraum. Wenn also die erwartete Sterblichkeit in einem kurzen Zeitraum niedrig ist, wird die Übersterblichkeit höher sein als in einem langen Zeitraum mit hoher Sterblichkeit.

Welche Schritte sind erforderlich, um wöchentliche und monatliche Todesfallreihen vergleichbar zu machen und dadurch mit beiden Datenreihen ähnliche Werte der Übersterblichkeit zu berechnen?

MN: Mit dieser Frage hat das ganze Projekt angefangen. Daten über Todesfälle pro Woche sind sehr begrenzt verfügbar, Zahlen zu Todesfällen pro Monat sind dagegen Teil der statistischen Standardberichte. Wie wir erwartet hatten, war die Zeiteinheit der Todesfallreihen jener Faktor, der die geringste Auswirkung auf die Berechnung der Übersterblichkeit hatte. Dennoch können unterschiedliche Zeiteinheiten aufgrund der Verschiebung des Bezugszeitraums zu falschen Ergebnissen für den Wert eines kurzen Zeitraums, etwa eines Monats, führen. Beispielsweise könnte der Zeitraum, der sich auf die ersten vier Wochen eines Jahres bezieht, zwischen dem 29. Dezember und dem 3. Januar beginnen, während der erste Monat immer am 1. Januar beginnt. Der Zeitrahmen zur Berechnung der Baseline ist also unterschiedlich.

Ihre Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass die Methode, die zur Berechnung der Baseline verwendet wird, eine wichtige Quelle für Abweichungen ist.

DJ: Auf jeden Fall. Es ist entscheidend, eine geeignete Methode zu verwenden, um zuverlässige Berechnungen der Übersterblichkeit zu erhalten. Die Methoden, die während der COVID-19-Pandemie am häufigsten verwendet wurden, sind einfache (wochen-)spezifische Durchschnittswerte und Regressionsmodelle. In unserer Studie verwenden wir vier gängige Methoden:

  • the specific average
  • specific average with the trend
  • harmonic with the trend
  • specific trend

Das sind nicht alle Methoden, die es gibt, in der Literatur werden Dutzende aufgelistet. Aber es reicht, um die Sensibilität bei der Berechnung der Übersterblichkeit zu zeigen. Die Methoden, die lineare Trends berücksichtigen, sind genauer und weniger empfindlich gegenüber der Wahl des Sterblichkeitsindikators und liefern ähnliche Übersterblichkeitsraten sowohl für rohe Sterberaten als auch für altersstandardisierte Sterberaten. Wie stark die Übersterblichkeitsraten von der Wahl der Methode beeinflusst wurden, die Trends berücksichtigt oder nicht, war für jedes Land unterschiedlich. Die Spanne reichte von etwa 130 Todesfällen pro 100.000 Personen in Litauen bis zu 26 Todesfällen pro 100.000 Personen in Neuseeland. Darüber hinaus ist die Methode von Bedeutung, um Schwankungen bei der Übersterblichkeit zu verstehen. Denn wir haben festgestellt, dass das Ausmaß dieser Schwankungen länderspezifisch ist und von der Wahl des Mortalitätsindexes abhängt.

Wie groß sind die Unterschiede bei der Übersterblichkeit in den 26 von Ihnen untersuchten Ländern, je nachdem, welche Faktoren zur Berechnung herangezogen werden?

DJ: Wir sollten zwei Möglichkeiten unterscheiden: absolute Veränderungen der Übersterblichkeit in einem Land und relative Veränderungen im Vergleich mit anderen Ländern. Wir haben untersucht, wie empfindlich die Berechnung der Übersterblichkeit im Jahr 2020 auf die Wahl der vier Faktoren in den folgenden 26 Ländern reagiert: Österreich, Belgien, Dänemark, England und Wales, Estland, Finnland, Frankreich, Ungarn, Israel, Italien, Lettland, Litauen, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Portugal, Südkorea, Schottland, Slowenien, Slowakei, Spanien, Schweden, Schweiz, Taiwan und die Vereinigten Staaten.

...und was haben Sie herausgefunden?

MN: Wir haben gezeigt, dass die Übersterblichkeitsraten bei einer Änderung dieser Faktoren erheblich schwankten, und dass sich das Ausmaß dieser Schwankungen innerhalb der Länder deutlich veränderte. Das führte wiederum zu Veränderungen in der Rangliste der Länder mit der höchsten Übersterblichkeit. So änderte sich beispielsweise die Größenordnung, d. h. der absolute Wert der Unterschiede in den Übersterblichkeitsraten, innerhalb der Länder erheblich, wenn der Bezugszeitraum geändert wird: Die Punktschätzung reicht von 0,1 bis 55 Todesfälle pro 100 000 Einwohner. Diese Veränderungen sind in den einzelnen Ländern nicht einheitlich, so dass länderübergreifende Vergleiche, die auf unterschiedlichen Methoden beruhen, erheblich voneinander abweichen.

Was empfehlen Sie generell, um die Übersterblichkeit so genau wie möglich zu berechnen?

MN: Unsere erste Empfehlung bezieht sich auf den Mortalitätsindex: Beim Vergleich von Bevölkerungen sollten die Unterschiede in der Alterszusammensetzung berücksichtigt werden; daher empfehlen wir altersstandardisierte Sterberaten. Es ist jedoch auch wichtig zu bedenken, dass altersstandardisierte Sterberaten hypothetische Raten sind. Sie drücken aus, was in einer Bevölkerung beobachtet worden wäre, wenn sie die gleiche Alterszusammensetzung wie die Standardbevölkerung gehabt hätte. Im Gegensatz dazu drücken rohe Sterberaten die reale Sterblichkeit aus und sind daher nicht irreführend, wenn kein Vergleich zwischen Bevölkerungen vorgenommen wird. Daher empfehlen wir die Verwendung altersstandardisierter Indikatoren als zusätzliches Maß in allen Fällen, in denen rohe Sterberaten verwendet werden.

Gibt es weitere Empfehlungen?

MN: Ja, das betrifft die Methoden zur Berechnung der Baseline. Diese Methoden sollten die Mortalitätstrends im Laufe der Zeit berücksichtigen. Eine weitere Anregung betrifft den Bezugszeitraum. Die Anzahl der Jahre, die in den Bezugszeitraum einbezogen werden, sollte groß genug sein, um einen stabilen und eindeutigen Sterblichkeitstrend zu ermitteln. Die beste Länge des Bezugszeitraums ist daher länder- und modellspezifisch. Im Laufe der Zeit hat sich die Sterblichkeit in den einzelnen Ländern auf unterschiedliche Weise verändert. Das sollte bei der Berechnung der Übersterblichkeit berücksichtigt werden. Und die Wahl des Modells sollte aufgabenspezifisch sein und diese Unterschiede berücksichtigen.

Hintergrundinformationen

Was ist Übersterblichkeit?

Die Übersterblichkeit ist die Differenz zwischen der beobachteten Sterblichkeit, in der Regel aufgrund aller Todesursachen, und der zu erwartenden Sterblichkeit, der Baseline. Während der COVID-19-Pandemie kann die Übersterblichkeit berechnet werden, indem die Differenz zwischen der beobachteten Sterblichkeit und der Sterblichkeit, die zu erwarten gewesen wäre, wenn die Pandemie nicht stattgefunden hätte, berechnet wird. Die schwierige Aufgabe besteht darin, die erwartete Sterblichkeit zu definieren. Es gibt verschiedene Ansätze, die Baseline zu definieren. In jedem Fall sollten jedoch mehrere entscheidende Aspekte berücksichtigt werden: die Sterblichkeitsentwicklung in den vergangenen Jahren, Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur und das niedrigst-mögliche Sterblichkeitsniveau in der Bevölkerung. Im STMF-Visualisierungs-Toolkit der Human Mortality Database kann man verschiedene Eingaben und Methoden zur Berechnung der Übersterblichkeit testen.

Warum ist die Übersterblichkeit eine wertvolle Kennzahl in der COVID-19-Pandemie?

Die Übersterblichkeit ist eine der zuverlässigsten Methoden dafür, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu messen. Das liegt vor allem daran, dass sie die Todesfälle aller Todesursachen berücksichtigt. Deshalb spielt bei der Berechnung der Übersterblichkeit keine Rolle, wie hoch COVID-19-Testkapazität waren, wie COVID-19-Todesfälle definiert werden und ob COVID-19-Todesfälle auf Totenscheinen falsch klassifiziert wurden. Außerdem umfasst die Kennzahl auch Todesfälle, die sowohl direkt als auch indirekt auf die Pandemie zurückzuführen sind. Daher gilt die Übersterblichkeit als der beste Ansatz, um die Gesamtsterblichkeit durch COVID-19 zu bewerten und zu vergleichen.

Was würden Sie im Fall von Deutschland empfehlen, um die Übersterblichkeit möglichst genau zu berechnen?

Die Antwort hängt von der jeweiligen Forschungsfrage ab. Klar ist aber, dass der wochenspezifische Durchschnitt auf Grundlage des Referenzzeitraums 2015-2019 für Deutschland erheblich verzerrt ist. Erstens berücksichtigt er die beobachteten Sterblichkeitstrends sowie die Bevölkerungsalterung nicht (glücklicherweise gleichen sie sich teilweise aus). Am wichtigsten ist jedoch, dass Deutschland 2015, 2017 und 2018 von drei schweren Grippewellen betroffen war. Die erhöhte Sterblichkeit im Referenzzeitraum führt dazu, dass wir die Pandemieverluste erheblich unterschätzen.

Originalpublikation

Nepomuceno, M.R., Klimkin, I., Jdanov, D.A., Alustiza-Galarza, A., Shkolnikov, V.M.:  Sensitivity analysis of excess mortality due to the COVID-19 pandemic. Population and Development Review (2022). DOI: 10.1111/padr.12475

Autor*innen und Institutionen

Marília R. Nepomuceno, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Ilya Klimkin, National Research University Higher School of Economics, Moskau

Dmitri A. Jdanov, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Ainhoa Alustiza-Galarza, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Vladimir M. Shkolnikov, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

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