16. Juni 2016 | News | Interview

„Die Prognose ist der ultimative Test dafür, ob eine Theorie stimmt“

Seit April 2016 leitet Roland Rau die neue MPIDR-Arbeitsgruppe Mathematische Demografie. In diesem Interview erklärt er, warum es wichtig ist, sich auf den Ursprung der demografischen Forschung zurück zu besinnen.

Sie leiten seit April  die neue Arbeitsgruppe “Mathematische Demografie” - „Mathematische Demografie“, das klingt erst einmal nach einem sehr weit gefassten Gebiet, eines, in das man fast alle Arten von demografischen Fragestellungen packen kann. Was wollen Sie nun genau machen?
Wir wollen uns mit der formalen Demografie beschäftigen. Das ist so etwas wie der Ursprung und gleichzeitig der Kern der Demografie. Wir wollen mathematische Gesetze verwenden, um die Sterblichkeit zu beschreiben. Diese formale Demografie ist geschichtlich sehr eng mit der Versicherungsmathematik verbunden, eigentlich sind beide Forschungsgebiete kaum voneinander zu trennen. Edmund Halley - das ist der Halley, der auch den Kometen entdeckt hat, der nach ihm benannt wurde - hat Ende des 17. Jahrhunderts die ersten Sterbetafeln berechnet, mit dem Ziel Versicherungsleistungen daraus abzuleiten. Deswegen haben wir im Englischen den Namen der Arbeitsgruppe auch um „Actuarial Sciences“ erweitert. Im Deutschen haben wir es sein lassen, da „mathematische und versicherungsmathematische Demografie“ sehr seltsam klingt. Zudem könnte es zu Missverständnissen führen, da wir keine Beiträge und Prämien für Lebens- oder Rentenversicherungen berechnen wollen. Mir ist nur wichtig zu zeigen, dass wir Methoden aus beiden Disziplinen zu nutzen.

Ist das dann eher so eine „Old-School“-Wissenschaft?
Wie gesagt, die formale Demografie ist der Ursprung der demografischen Forschung. Old-School würde ich sie trotzdem nicht nennen. Zwar wird immer wieder beklagt, dass sich keiner mehr dafür interessiert und alle nur noch Mikro- und Individual-Daten-Analysen machen. Auf Tagungen fällt aber auf, dass gerade die Veranstaltungen, in denen es um formale Demografie geht, sehr gut besucht sind. Wahrscheinlich ist das Interesse da, aber die Hürde, nämlich dass man doch ein bisschen mehr von Mathematik verstehen muss, ist sehr hoch.

Warum ist die formale Demografie so wichtig für die demografische Forschung?
Erst einmal muss man sagen, dass das Schöne an der Demografie ist, dass es Gesetzmäßigkeiten gibt, die man sonst in den Sozialwissenschaften eher nicht findet. Ein Beispiel: Vorausgesetzt ich lebe ein Jahr länger, dann bin ich in einem Jahr ein Jahr älter. Oder: Geburten gibt es nur im Alter von Null Jahren. Das klingt zwar banal, aber aus solchen Regelmäßigkeiten kann man eine Vielzahl an mathematischen Modellen ableiten. Wir können sehen, wie sich eine Bevölkerung entwickelt, ob sie schrumpft oder wächst zum Beispiel. Wenn es uns gelingt, demografische Kennzahlen, wie zum Beispiel die Sterblichkeit, zu modellieren, können wir Prognosen für die Zukunft abgeben. Man könnte aber auch sagen: Erst wenn ich verstanden habe, wie bestimmte Mechanismen in Bevölkerungen funktionieren, kann ich sie modellieren. Das heißt umgekehrt: Die Prognose ist der ultimative Test dafür, ob eine Theorie stimmt.

Wenn man so ein Modell für die Sterblichkeit entwickelt hat, muss man dann 20, 50 oder sogar 100 Jahre warten, um festzustellen, ob es richtig war?
Nein. In der Regel hat man Datenreihen aus der Vergangenheit, Zeitreihen. Da nimmt man dann einen ersten Zeitabschnitt und schaut, ob das Modell zu der tatsächlichen Entwicklung passt. Prognosen für ein bis zwei Jahre zu machen, das ist relativ simpel. Über mehrere Jahre hinweg wird es aber schwierig.

Modelle haben wohl auch deswegen nicht immer den besten Ruf. Denn die Prognosen, die mit ihnen gemacht werden, liegen doch häufig daneben....
Das stimmt. Das hat der Demograf Nico Keilman vor ein paar Jahren in einem Artikel ähnlich formuliert. Er hat die Frage gestellt, warum, obwohl wir immer bessere Datensätze und Computer haben, mit denen wir arbeiten können, die Prognosen nicht besser werden. Das ist natürlich erst einmal ein negatives Statement, mit dem er aber recht hat. Ich finde, dass man  auf dieser Erkenntnis aufbauen kann. Wir müssen uns jetzt überlegen: Was können wir besser machen? Außerdem müssen wir unsere Denke etwas verändern. Wir haben häufig den Fokus auf die Prognose der mittleren Werte gesetzt. Also zum Beispiel haben wir uns gefragt, wie viele Menschen im Jahr XY über 80 alt sind. Das  ist wichtig zu wissen, weil von denen ein gewisser Prozentsatz pflegebedürftig sein wird und deswegen entsprechende Kapazitäten an Pflegeheimplätzen bereitgestellt werden müssen. Wenn wir dafür einen mittleren Wert prognostizieren, liegen wir immer zu 50 Prozent richtig aber auch zu 50 Prozent falsch. Interessanter könnte also für die Politik sein, wenn wir probabilistische Prognosen liefern könnten, die Schwankungen in bestimmten Kennzahlen mit berücksichtigen. Dann könnte man zum Beispiel Aussagen dazu machen, wie wahrscheinlich es ist, dass soundsoviel Prozent der Bevölkerung im Jahr XY über 80 Jahre alt sein wird. Auch an diesen Methodiken werden wir arbeiten.

Gibt es denn ein richtig gutes Modell für die Sterblichkeit?
Es gibt viele Modelle und jeder behauptet von seinem, es sei das beste. Wir haben auch ein Modell entwickelt. Ich würde nicht sagen, dass es das beste ist, aber es ist nicht schlechter als andere und für bestimmte Sachverhalte eignet es sich besser als andere. Was es anders macht: Das Modell nutzt nicht die Sterberaten, sondern die Veränderungsraten der Sterblichkeit. Außerdem können Daten aus Vergleichsländern mit einbezogen und das Ganze wird in einen probabilistischen Kontext gesetzt. Hier hilft vielleicht auch ein Beispiel, um zu erklären, warum das wichtig ist: Wir haben kürzlich einen Artikel zu  der Lebenserwartung der Frauen in Dänemark publiziert. In Dänemark hatte sich die Lebenserwartung der Frauen von 1980 bis 2000 kaum noch positiv nach oben entwickelt. Und zwar lag das hauptsächlich daran, dass die Frauen, die zwischen den zwei Weltkriegen geboren wurden, viel geraucht haben. Da ist die Frage: Wie kann man so etwas in ein Modell kriegen? Da funktionierte unser Modell gut, weil wir eben immer schauen konnten, wie verändert sich die Sterblichkeit von Jahr zu Jahr und außerdem konnten wir Daten aus den Referenz-Ländern Schweden und Norwegen mit einfließen lassen. Diese Länder sind soziokulturell Dänemark sehr ähnlich, nur dass dort die Frauen dieser Jahrgänge zwischen den beiden Weltkriegen nicht so viel geraucht haben.

Heißt das, dass Ihre Arbeitsgruppe nun immer weiter an der Verbesserung des Models arbeiten wird, bis es irgendwann universell anwendbar ist?
Nein. Es wird nur auf so genannte High Income Countries anwendbar sein. In allen Länder südlich der Sahel-Zone beispielsweise sind die soziokulturellen und ökonomischen Vorraussetzungen so anders, dass das Model vermutlich  nicht funktionieren würde. Aber was viel wichtiger als die Weiterentwicklung des Modells ist, sind die Methoden, die wir dann damit parallel weiterentwickeln.  Wir haben zum Beispiel ein paar Ideen, wie man Modelle dahingehend überprüfen kann, ob die Prognosen, die sie liefern, realistisch oder unrealistisch sind, weil sie mit allen Trends der Vergangenheit brechen. Wir entwickeln also Methoden, mit dem man schon heute und nicht erst in 40, 50 Jahren sagen kann, ob eine Prognose realistisch ist. Das ist dann eine Art Werkzeugkasten, der jedem, der ihn nutzen will, zur Verfügung stehen wird.

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