23. Oktober 2018 | News

Ökonomische Krise hat die erwartete Lebensarbeitszeit in Spanien stark schrumpfen lassen

In Zeiten des demografischen Wandels wird häufig über ein späteres Renteneintrittsalter diskutiert. Doch unsere Lebensarbeitszeit hängt auch stark davon ab, wie kontinuierlich wir arbeiten. In Spanien etwa sank die erwartete Lebensarbeitszeit während der Wirtschaftskrise drastisch, wie eine Studie des MPIDR zeigt.

(Der folgende Text basiert auf den wissenschaftlichen Veröffentlichungen The length of working life in Spain: levels, recent trends, and the impact of the financial crisis der MPIDR-Forscher Christian Dudel und Mikko Myrskylä, sowie The legacy of the great recession in Italy: a wider geographical, gender, and generational gap in working life expectancy der MPIDR-Forscher Angelo Lorenti und Mikko Myrskylä und wurde auf Deutsch bereits mit kleinen Änderungen in der Ausgabe 3/2018 des Quarterlys "Demografische Forschung Aus Erster Hand" veröffentlicht.)

Wer länger lebt, muss auch länger arbeiten. Auf diese etwas vereinfachte Formel lässt sich eine der wesentlichen Herausforderungen des demografischen Wandels bringen. Denn wenn die sozialen Sicherungssysteme nicht in Schieflage geraten sollen, dann müssen mit steigender Lebenserwartung auch die Erwerbsjahre zunehmen - nicht nur die Rentenjahre. Oft wird daher über eine Anhebung des Rentenalters diskutiert.

Dabei gerät manchmal aus dem Blickfeld, dass es viele weitere Aspekte gibt, die einen Einfluss darauf haben, wie viele Jahre unseres Lebens wir erwerbstätig sind. Da ist zum einen der Einstieg in den Arbeits- markt, der sich durch eine längere Ausbildung nach hinten verschieben kann. Zum anderen summieren sich im Laufe des Lebens auch Arbeitspausen auf, die wir aus gesundheitlichen und familiären Gründen einlegen oder die wir nehmen müssen, weil wir keine Arbeit finden.

Wie stark sich eine gestiegene Arbeitslosigkeit auf die Dauer des durchschnittlichen Erwerbs- lebens auswirken kann, zeigen Christian Dudel und Mikko Myrskylä vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung gleich anhand zweier Studien. Beide beschäftigen sich mit Ländern, die zuletzt mit relativ hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Angelo Lorenti fanden sie etwa heraus, dass die Lebensarbeitszeit in Italien zwischen 2003 und 2013 erheblich gesunken ist und dass sich dabei sowohl die Unterschiede zwischen Männern und Frauen als auch die Unterschiede zwischen dem reicheren Norden und dem Süden vergrößert haben.

Abb. 1: Während der wirtschaftlichen Krise in Spanien ging die erwartete Lebensarbeitszeit stark zurück. Ausgehend von den aktuellen Daten zum Arbeitsmarkt werden Ausbildungsjahre sowie Jahre der Arbeitslosigkeit und Rentenjahre von der Lebenserwartung abgezogen und so die voraussichtliche Lebensarbeitszeit von 15-Jährigen ermittelt. © Quelle: Continuous Working Life Sample (CWLS) 2004-2013, eigene Berechnungen

In einer zweiten Studie haben Dudel und Myrskylä gemeinsam mit María Andrée López Gómez und Fernando Benavides von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona die Auswirkungen der ökonomischen Krise auf die Lebensarbeitszeit in Spanien untersucht. Die vier Forscher konnten auf der Grundlage des Continuous Working Life Sample (CWLS) Daten von über einer Million Spanierinnen und Spanier auswerten und die voraussichtliche Lebensarbeitszeit berechnen. Spanien schlitterte um das Jahr 2008 in eine schwere ökonomische Krise, in deren Folge die erwartete Lebensarbeitszeit erheblich zurückging (vgl. Abb.1). Während Männer in den Jahren 2004/2005 noch knapp 38 Arbeitsjahre erwarten konnten, ging dieser im europäischen Vergleich recht hohe Wert innerhalb weniger Jahre drastisch zurück. So wie die Arbeitsmarktlage in den Jahren 2008/2009 in Spanien war, konnten Jungen im Alter von 15 Jahren nur noch mit knapp 26 Erwerbsjahren im Laufe ihres Lebens rechnen – ein Rückgang um 12 Jahre. Auch bei den 15-jährigen Mädchen ging die erwartete Lebensarbeitszeit deutlich zurück. Wurden 2004/2005 noch durchschnittlich 33 Erwerbsjahre errechnet, sank diese Zahl im Jahr 2008/2009 auf den gleichen Wert wie bei den Männern: 25,6 Jahre.

Abb. 2: Während die erwartete Lebensarbeitszeit bei den qualifizierten Angestellten kaum zurückging, sank sie bei Ungelernten und Arbeitern sehr stark und erholte sich nach der Krise kaum. © Quelle: CWLS 2004-2013, eigene Berechnungen

Besonders stark betroffen von dem Rückgang sind ungelernte Arbeitskräfte (s. Abb.2) – in dieser Beschäftigungsgruppe ging die erwartete Arbeitslebenszeit zwischenzeitlich um 14 Jahre bei den Männern und um neun Jahre bei den Frauen zurück. Qualifizierte Arbeitskräfte, die eine nicht manuelle Tätigkeit ausüben, blieben dagegen von der ökonomischen Krise weitestgehend verschont. Zwar sank die erwartete Anzahl an Erwerbsjahren im Leben zwischenzeitlich leicht. Zum Ende des Untersuchungszeitraumes aber standen in dieser Berufsgruppe so- wohl die Männer mit 38 erwarteten Arbeitsjahren als auch die Frauen mit über 35 Jahren noch leicht besser da als zum Startpunkt der Untersuchung im Jahr 2004. Zwischen diesen beiden Beschäftigungsgruppen liegen die ungelernten Angestellten und – deutlich dahinter – die gelernten Arbeiter. Dass Arbeiter besonders von der Krise betroffen waren, führen die Autoren der Studie darauf zurück, dass vor allem Tätigkeiten im manuellen Bereich, wie z.B. im Bausektor, von der Rezession in Spanien betroffen waren.

Häufig wurde angenommen, dass die Krise vor allem junge Menschen trifft, die ihren Weg in den Arbeitsmarkt noch finden müssen. Doch das bestätigt sich bei der Analyse nur zum Teil (s. Abb. 3). Zwar ist der Rückgang der erwarteten Arbeitsjahre in den meisten Beschäftigungsgruppen im Alter zwischen 20 und 29 am höchsten. Doch lediglich bei den ungelernten Angestellten ist er bei den 20- bis 29-Jährigen deutlich höher als in allen anderen Altersgruppen. Bei den übrigen Beschäftigungsarten haben andere Altersgruppen einen vergleichbaren Anteil am Rückgang. Und bei den weiblichen qualifizierten Angestellten stellen die jungen Altersgruppen sogar den geringsten Anteil am Rückgang.

Die Lebenszeit, in der Menschen nicht arbeiten, sind aber nicht zwangsläufig nur Zeiten der Arbeitslosigkeit. Neben der Rente gibt es auch die Möglichkeit inaktiv zu sein, also weder zu arbeiten, noch Rente oder Arbeitslosenunterstützung zu beziehen. Das ist etwa bei Menschen der Fall, die in der Ausbildung sind oder die Bedingungen für die Arbeitslosenunterstützung nicht erfüllen.

Abb. 3: Der Rückgang der Lebensarbeitszeit zwischen 2006/7 und 2008/9 ist auf Abnahmen in allen Altersgruppen zurückzuführen. Am stärksten betroffen sind jedoch die 20-29 Jährigen sowie die 50- bis 59-Jährigen. © Quelle: CWLS 2004-2013, eigene Berechnungen

Auch hierfür berechneten die vier Wissenschaftler die zu erwartenden Zeiten. Während Mädchen, die 2004 15 Jahre alt waren, im Verlauf ihres restlichen Lebens nur mit zwölf Jahren Inaktivität am Arbeitsmarkt rechnen mussten, waren es zum Höhepunkt der ökonomischen Krise 2008/2009 bereits 18 Jahre. Die Dauer der erwarteten Arbeitslosigkeit wuchs im gleichen Zeitraum von 3 auf 5,4 Jahre (2008/2009) an. Bei den Männern ist dies ähnlich. 15-jährige Jungen konnten 2004 noch mit knapp 6 Jahren Inaktivität rechnen. 2008/2009 hat sich dieser Wert mit 14,6 Jahren mehr als verdoppelt. Die erwarteten Zeiten der Arbeitslosigkeit stiegen im gleichen Zeitraum von 2,4 Jahren auf 6,7 Jahre. Die Zeit, die 15-jährige Jungen oder Mädchen voraussichtlich in Rente verbringen werden, stieg zwischen 2004 und 2013 hingegen nur sehr leicht an. Hier weisen die Autoren der Studie jedoch darauf hin, dass eine 2013 vollzogene Reform, bei der unter anderem das Renteneintrittsalter angehoben wurde, zukünftig für einen Rückgang oder eine Stagnation der Rentenjahre sorgen könnte.

Die für die einzelnen Jahre errechneten Werte sind allerdings stets nur Momentaufnahmen. Die Wissenschaftler können damit aussagen, wie etwa das Leben einer 15-Jährigen ungefähr verlaufen wird, wenn die Bedingungen des jeweiligen untersuchten Kalenderjahres auch in Zukunft anhalten werden. Deshalb ist es also durchaus möglich, dass jüngere Menschen doch noch deutlich mehr Erwerbsjahre in ihrem Leben ansammeln, wenn die wirtschaftlichen Bedingungen wieder besser werden. Andererseits zeigt sich auch, dass Menschen, die längere Zeiten der Arbeitslosigkeit durch- gemacht haben, es auch später am Arbeitsmarkt schwe- rer haben. Insofern weisen die Autoren und Autorinnen darauf hin, dass der erhebliche Verlust an Erwerbsjahren, wie er während der Krise zu beobachten war, durchaus besorgniserregend ist. Denn dadurch werden die sozialen Sicherungssysteme in Spanien, die aufgrund der Alterung der Bevölkerung ohnehin belastet sind, weiter unter Druck gesetzt.

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