27. September 2007 | Pressemitteilung

Hundert wird bald jeder

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen es erneut: Wir leben immer länger. Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung untersuchen dieses Phänomen

Das Glück, seiner Oma eine Grußkarte zum 100. Geburtstag schicken zu können, haben heute nur Wenige. Im 22. Jahrhundert könnte das aber schon Normalität sein. Die Lebenserwartung in den Industriestaaten steigt weiter - "um zwei bis drei Jahre pro Dekade", prognostizieren Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und der Universität Rostock. Diesen Trend belegen auch die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Im Vergleich zum letzten Jahr ist die durchschnittliche Lebenserwartung für neugeborene Jungen um fast fünf und die der Mädchen um dreieinhalb Monate gestiegen. Wir werden aber nicht nur immer älter, sondern wir bleiben auch immer länger gesund, wie eine neue Studie der Rostocker Wissenschaftler*innen zeigt.

"Schon die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft entscheidet über die Lebensspanne ihres Kindes", sagt Gabriele Doblhammer-Reiter. Die Wissenschaftler*innen gehen derzeit davon aus, dass die ersten Jahre des Kindes die Lebenserwartung etwa zu zehn Prozent beeinflussen. So lassen sich eine Reihe von Alterskrankheiten, wie Diabetes oder Bluthochdruck, mitunter auf früheste Lebenseinflüsse zurückführen. Später spielen dann soziale und finanzielle Lage, Bildung und Lebensstil eine entscheidende Rolle: Ganze 65 Prozent schreiben die Forscher*innen diesen Faktoren zu. "Es bringt also immer noch etwas, wenn sie mit 70 Jahren das Rauchen aufgeben", sagt Doblhammer-Reiter. Wenn Eltern und Großeltern lange leben, heißt das also nicht unbedingt, dass auch die Kinder sehr alt werden. Die Gene wirken sich vermutlich nur zu 25 Prozent auf die Lebenserwartung aus.

Am Hayflick-Limit ist Schluss

Der Vorgang des Alterns ist ein komplexes Zusammenspiel aus mehreren Prozessen, die die Wissenschaft noch nicht vollständig aufgeklärt hat. Schon in den sechziger Jahren entdeckte Leonard Hayflick, ein amerikanischer Gerontologe, dass normale menschliche Zellen in Zellkultur sich nur rund 50-mal teilen können. Diese Grenze an möglichen Zellteilungen ist nach Hayflick genetisch vorgegeben. Sie wird als Hayflick-Limit bezeichnet.

Rund zwanzig Jahre später fand die Wissenschaft auch heraus, wie es zu dieser Limitierung kommt: Wenn sich eine Körperzelle teilt, wird das Erbgut unserer Zellen, die DNA, verdoppelt. Dabei geht jedes Mal ein Stück davon verloren. Die DNA liegt in jeder Zelle in Form von Chromosomen vor. Die Endstücke dieser Chromosomen, die sogenannten Telomere, bestehen aus nichtkodierender DNA. Sie dienen hauptsächlich dazu, dass ein Enzym, die DNA-Polymerase, andocken kann, um das Erbmaterial bei der Zellteilung zu verdoppeln. Dabei verkürzen sich die Telomere bei jeder Zellteilung, bis die DNA-Polymerase keine Andockstelle mehr hat und die Zelle damit nicht mehr teilungsfähig ist.

"Auch wenn das Hayflick-Limit existiert, so ist allerdings bis heute nicht klar, ob und wie genau die Verkürzung der Telomere mit dem Altern zusammenhängt", sagt Annette Baudisch vom Rostocker Institut. Das Hayflick-Limit liegt im Moment noch weit hinter der heutigen Lebenserwartung. Es stirbt also niemand an zu kurzen Telomeren. "Vieles weist darauf hin, dass das Hayflick-Limit die Zellen davor bewahrt, sich unendlich teilen zu können - eine Eigenschaft, die Krebszellen für uns so gefährlich macht", sagt Baudisch.

Attacke der Radikale

Eine weitere Erklärung für das Altern ist die Freie-Radikal-Theorie, die heute von vielen Wissenschaftler*innen favorisiert wird. Nach dieser Theorie leiden Zellen eines Organismus ständig unter so genanntem oxidativen Stress: Vor allem bei Stoffwechselvorgängen entstehen in jeder Zelle reaktive Oxidantien wie das Superoxid Anion (O2-). Diese oxidieren und schädigen lebenswichtige Moleküle, wie zum Beispiel Fette, Proteine oder DNA. Nicht alle Schäden können wieder repariert werden. Sie häufen sich im Laufe des Lebens an. Die Zelle und somit der gesamte Organismus altern.

Lebenslange Diät - ein Jungbrunnen

Könnten wir der Freien-Radikal-Theorie zufolge durch ständiges Diäthalten länger leben? Weniger Essen heißt, dass der Stoffwechsel reduziert wird und damit auch weniger reaktive Oxidantien in den Zellen gebildet werden. An Tieren wurde diese Hypothese schon bewiesen: Die Lebensspanne einiger Nagetiere, Würmer und Fliegen hat sich durch extreme Diät verlängert. "Wir können aber noch nicht genau sagen, wie sich eine lebenslange, strenge Diät auf die Lebensspanne des Menschen auswirken würde", sagt Annette Baudisch.

Die Befunde stimmen jedenfalls mit der Beobachtung überein, dass eine Riesenschildkröte mit ihrer geringen Stoffwechselrate rund 200 Jahre alt wird, eine Kohlmeise mit einer hohen Stoffwechselrate nur neun Jahre. Es könnte außerdem eine Ursache dafür sein, dass streng diätetisch lebende Japanerinnen der Insel Okinawa verglichen mit durchschnittlichen Amerikanerinnen eine 2,5-fach erhöhte Chance haben, das Lebensalter von 100 Jahren zu überschreiten.

Das Rätsel des Alterns

"Evolutionär betrachtet ist die Alterung auf den ersten Blick ein Rätsel. Denn ein Organismus ist fitter, also reproduktiver, wenn er jung und gesund bleiben kann", sagt David Thomson, Evolutionsbiologe am Rostocker Max-Planck-Institut. "Alterung ist also ein Nachteil, und man muss sich fragen, warum die Evolution es nicht beseitigt hat." Klassische Theorien besagen, dass Altern sich unvermeidlich entwickelt haben muss, da die Überlebenschancen mit steigendem Alter geringer werden und damit der Selektionsdruck abnimmt.

Eine der bekanntesten Theorien ist die des amerikanischen Evolutionsbiologen George C. Williams. Er geht davon aus, dass das Altern umso schneller voranschreitet, je gefährlicher die Umgebung des Individuums ist - also die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Beispiel verhungert, erfriert oder gefressen wird. Es lohnt sich in der Natur demnach nicht, einen Organismus lange instand zu halten, da er ohnehin bald sterben muss. Lebewesen nehmen deshalb einen schnelleren Alterungsprozess in Kauf, um möglichst viele, gesunde Nachkommen zu produzieren.

"Das ist wie beim Einkaufen", meint David Thomson. "Wir wägen Kosten und Nutzen ab. Auf der Speisekarte des Lebens stehen dabei die biologischen Grenzen." Theoretisch betrachtet verbraucht eine schwangere Frau zum Beispiel viel Energie, um ein gesundes Kind in die Welt zu setzen. Durch den hohen Stoffwechselverbrauch während der Schwangerschaft leidet sie dafür an einem hohen oxidativen Stress. Sie also nimmt für gesunde, starke Nachkommen einen beschleunigten Alterungsprozess in Kauf.

Hydras bekommen nie Falten

Neue Studien zeigen, dass das Altern nicht unbedingt unvermeidlich ist. Die Forschergruppe um David Thomson untersucht zum Beispiel den Süßwasserpolypen Hydra. Bei diesem Hohltier konnten sie bis jetzt noch keinerlei Zeichen von Altern entdecken. Die Wissenschaftler*innen gehen heute davon aus, dass sich der Alterungsprozess bei verschiedenen Lebensformen jeweils unterschiedlich gestaltet. Diese Unterschiede können allerdings auch mit der Kosten-Nutzen-Abwägung begründet werden: Manche Lebewesen nehmen lieber einen rapiden Alterungsprozess in Kauf, um möglichst schnell viele Nachkommen zu produzieren. Andere gehen es gemächlich an und investieren in ein langes Leben, indem sie nur wenig Nachwuchs bekommen, dies jedoch in regelmäßigen Abständen und über einen langen Zeitraum. "Nur wenn wir verstehen, warum und wie einige Lebensformen dem Altern entkommen konnten, können wir auch verstehen, warum der Mensch das Altern in Kauf nehmen muss", sagt Annette Baudisch.

Wir sterben heute anders

Falls es für uns ein Alterslimit gibt, scheinen wir es jedenfalls noch nicht erreicht zu haben. Die Lebenserwartung steigt von Jahr zu Jahr. In den Industrieländern ist sie in den letzten 150 Jahren um ganze 40 Jahre gestiegen. Heute gibt es 45-mal mehr Hundertjährige als im Jahr 1960. "Der medizinische Fortschritt, aber auch die veränderten Lebensbedingungen spielen dabei die größte Rolle", sagt Gabriele Doblhammer-Reiter. Dank Antibiotika und Impfungen sterben Menschen nur noch selten an Infektionskrankheiten. Es wird mehr auf Hygiene geachtet als noch vor 100 Jahren, und der verbreitete Wohlstand hat die Mangelernährung eingedämmt. Die Todesursachen haben sich dadurch verschoben. Die Menschen sterben heute vor allem an chronischen Krankheiten, wie Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen. Und auch diese können infolge des medizinischen Fortschritts immer besser behandelt werden. "Die Menschen bleiben immer länger gesund und werden älter", sagt Doblhammer-Reiter. Das belegt auch ihre Studie vom Mai 2007. Zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Uta Ziegler zeigt sie unter anderem, dass der Pflegebedarf in den letzten zwanzig Jahren nicht proportional zur Alterung der westdeutschen Bevölkerung angestiegen ist. Vielmehr sank das Risiko leicht, im Alter pflegebedürftig zu werden.

Frauen leiden und leben länger

Die Studie zeigte auch, dass der Pflegebedarf der Frauen ab einem Alter von 84 Jahren ansteigt, der der Männer aber abflacht. "Das ist ein Paradox. Frauen leiden öfter und länger an Krankheiten, werden im Durchschnitt aber älter als Männer. Umgekehrt sterben Männer also eher als Frauen, wenn sie krank sind. In den höchsten Altersgruppen bleiben daher nur die stärksten Männer übrig", so Doblhammer-Reiter. Das liegt unter anderem auch an den unterschiedlichen Erkrankungen: Frauen haben häufiger Krankheiten wie Arthritis, an denen man nicht zwingend früher stirbt. Männer sterben dagegen zum Beispiel oft an plötzlichen Herzinfarkten. "Das liegt unter anderem daran, dass Frauen gesundheitsbewusster leben als Männer. Sie rauchen zum Beispiel weniger", sagt die Forscherin. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 50 Prozent des Unterschiedes in der Lebenserwartung auf das Rauchverhalten zurückgeht. "Männer sind außerdem risikofreudiger. Sie sterben öfter an nicht-natürlichen Todesursachen wie zum Beispiel Verkehrsunfällen oder Suizid", fügt Doblhammer-Reiter hinzu.

Aber nicht nur der gesündere Lebensstil, sondern auch biologische Faktoren scheinen dazu beizutragen, dass Frauen länger leben. Studien zeigen zum Beispiel einen positiven Effekt der weiblichen Geschlechtshormone auf Serumlipide im Blut, die das Risiko für Herzerkrankungen verringern.

Der bislang älteste Mensch war jedenfalls eine Frau. Jeanne Calment aus der südfranzösischen Stadt Arles lebte 122 Jahre, fünf Monate und 14 Tage. Sie hat geraucht bis sie 119 war, regelmäßig große Mengen Schokolade verzehrt und jeden Tag ein Glas Portwein getrunken. Auch ein gesunder Lebensstil ist also kein allgemeingültiges Rezept für ein langes Leben.

Über das MPIDR

Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen. Die Wissenschaftler*innen des Instituts erforschen politikrelevante Themen wie den demografischen Wandel, Altern, Geburtendynamik und die Verteilung der Arbeitszeit über die Lebensspanne, genauso wie den digitalen Wandel und die Nutzbarmachung neuer Datenquellen für die Erforschung von Migrationsströmen. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt international zu den Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört der Max-Planck-Gesellschaft an, der weltweit renommierten deutschen Forschungsgemeinschaft.

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Die Zukunft des Alterns. Die Antwort der Wissenschaft, Peter Gruss (Hrsg.)

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