27. September 2021 | News | Interview

Ein neuer Ansatz Fertilität zu prognostizieren

© MPIDR

Daniel Ciganda, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Fertilität und Wohlbefinden am MPIDR, hat einen neuen Ansatz entwickelt, Fertilität zu modellieren und hochzurechnen. Im Interview erläutert er die Unterschiede zu bestehenden Ansätzen und führt in die Geschichte der Modellierung ein.

Herr Ciganda, in Ihrer aktuellen Studie schlagen Sie einen neuen Ansatz zur Modellierung und Prognose von Fertilitätsdynamiken vor. Wodurch unterscheidet er sich von bestehenden?

Nun, es gibt eine Reihe von Faktoren. Erstens verwenden wir, mein Kollege Nicolas Todd und ich, ein Modell auf der individuellen Ebene. Das heißt, wir simulieren Ereignisse in einer Lebensverlaufsperspektive und erhalten Reproduktionsgeschichten als Ergebnis des Modells. Auf diese Weise können wir aggregierte Fertilitätsmuster von unten nach oben modellieren und eine verhaltensbezogene Erklärung für diese Muster liefern.

...und gibt es noch andere Unterschiede?

Ja, unser Modell unterscheidet sich auch deshalb von den meisten Mikrosimulationsmodellen, weil es explizit Präferenzen, Absichten und Entscheidungen einbezieht. Dies ermöglicht es uns beispielsweise, zwischen geplanten und ungeplanten Geburten zu unterscheiden, was für viele Forschungsfragen wichtig ist. Es unterscheidet sich auch von bestehenden Agent-Based Models, weil es den gesamten Reproduktionsprozess modelliert und nicht nur ein einzelnes Ereignis, wie etwa den Übergang zur Elternschaft. Wir wollten ein Framework entwickeln, das einfach, aber flexibel genug ist, um als Teststation zu dienen und viele Ideen auszuprobieren.

In Ihrer Studie zeichnen Sie auch die Geschichte der Modellierung in der Fertilitätsforschung nach. Können Sie einen kurzen Überblick geben?

Sicher. Mein Mit-Autor Nicolas Todd und ich hielten es für wichtig, einen Teil des von den frühen Fertilitätsmodellierern geschaffenen Wissens zusammenzustellen. In der Zeit zwischen den 1950er und 1980er Jahren waren sie sehr aktiv. Es war die Zeit, in der viele wichtige Ideen entwickelt und getestet wurden. Danach sind die Ansätze jedoch fast verschwunden. Das lag zum Teil daran, dass es immer mehr Daten auf Mikroebene gab und die Anpassung statistischer Modelle einfacher wurde. Aber auch, weil sich diese frühen Modelle ausschließlich auf physiologische Faktoren konzentrierten und nicht auf die sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Triebkräfte der Veränderung von Fertilitätsdynamiken, an denen die meisten Forschenden und politischen Entscheidungsträger*innen interessiert sind.

Warum haben Sie in dieser Geschichte zurückgeblickt?

Um unserem Modell einen Kontext zu geben. Für uns war es wichtig, die nützlichsten Elemente dieser frühen Modelle zu identifizieren, aber auch ihre Unzulänglichkeiten zu erkennen und zu überlegen, wie wir sie verbessern können. Wir haben also einige der bewährten Ideen der frühen Modelle mit einem Schwerpunkt auf den sozialen und wirtschaftlichen Determinanten der Veränderung von Fertilitätsdynamiken kombiniert.

Zurück in die Gegenwart: Wie wenden Sie das Modell im Moment an?

Wir haben die Dynamik, die hinter dem Fertilitätswandel nach dem Babyboom in Europa steht, auf der Mikroebene untersucht. Dabei stellen sich mehrere interessante Fragen, etwa die Auswirkungen der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, wenn wir geplante und ungeplante Geburten betrachten. Diese Auswirkungen sind offensichtlich sehr unterschiedlich, und wir glauben, dass dieser Unterschied zum Beispiel hinter der in den vergangenen Jahren beobachteten Umkehrung des Zusammenhangs zwischen Entwicklungsgrad eines Landes und den Fruchtbarkeitsindikatoren steht.

Und was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Eine der spannendsten Anwendungen unseres Modells ist die Hochrechnung. Erstens, weil unser Modell Prognosen erstellen kann, die vollständig auf Verhaltensmechanismen beruhen. Aber auch, weil die prognostizierten Szenarien Informationen über die mögliche Entwicklung anderer relevanter sozialer Prozesse berücksichtigen, anstatt sich ausschließlich auf die Extrapolation beobachteter Trends zu verlassen. Dies könnte ein sehr interessantes Instrument sein, um politischen Entscheidungsträger*innen und der Öffentlichkeit nicht nur mitzuteilen, wie viele Kinder im Schnitt pro Frau in Zukunft wahrscheinlich geboren werden, sondern auch, warum wir das annehmen. Diesen Bereich wollen wir als nächstes aktiv erforschen. Wir hoffen auch, dass das Modell ein Eigenleben entwickelt. Deshalb haben wir unseren Code als Open Source zur Verfügung gestellt. Jeder, der das Modell und das Framework für seine Hochrechnung und die Visualisierung seiner Ergebnisse verwenden oder anpassen möchte, kann alle erforderlichen Materialien online erhalten.

Originalpublikation

Ciganda, D., Todd, N.: Demographic models of the reproductive process: Past, interlude, and future. Population Studies (2021) DOI:10.1080/00324728.2021.1959943

Weitere Information

Open Source Code available at: github.com/dciganda/

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MPIDR-Autor der Studie

Partnergruppenleiter

Daniel Ciganda

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