15. Mai 2018 | News | Neue Veröffentlichung
Steigender Entwicklungsstand kann Rückgang der Geburtenrate umkehren
Lange glaubten Forscher, dass in reicheren Bevölkerungen weniger Kinder pro Frau zur Welt kommen. Für Europa stimmt dies nicht mehr. Heute tendieren Regionen mit höherem Einkommen zu höhere Geburtenraten, zeigt eine neue MPIDR-Studie.
Die Chancen stehen gut, dass steigendes Einkommen in Europa künftig nicht mehr zu niedrigeren Geburtenraten führen wird, sagen Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) und der Freien Universität Berlin.
Sie widersprechen damit der weit verbreiteten Vorstellung, dass die Zahl der Kinder pro Frau sinkt, wenn Bevölkerungen wohlständischer werden. Diese Beobachtung traf zwar für den Großteil des 20. Jahrhunderts zu, währenddessen die Geburtenraten in fast allen hochentwickelten Ländern bis unter das sogenannte Bestandserhaltungsniveau von 2,1 Kindern pro Frau fielen – und zum Teil bis deutlich darunter.
Neue Regionaldaten der letzten drei Jahrzehnte für 20 europäische Länder zeigen nun allerdings, dass der alte Zusammenhang aus dem letzten Jahrhundert nicht mehr gilt. Heute tendieren europäische Regionen mit höherem Einkommen eher zu höheren Geburtenraten.
Das ist das Ergebnis einer Studie, die MPIDR-Forscher Sebastian Klüsener und Mikko Myrskylä jetzt zusammen mit Jonathan Fox von der Freien Universität Berlin im Wissenschaftsmagazin European Journal of Population veröffentlicht haben. Jonathan Fox ist Erstautor der wissenschaftlichen Veröffentlichung und war Forscher am MPIDR, als er mit der Arbeit an der Studie begann.
Wie sich das Verhältnis von Entwicklungsstand und Fertilität in Europas Regionen verändert, ist auch der Schwerpunkt des neuen Forschungsverbunds Register-Based Fertility Research Network, den das MPIDR initiiert hat.
Einkommen wandelte sich in den letzten 20 Jahren zu treibender Kraft der Fertilität
Indem sie etwa 250 europäische Regionen untersuchten, entdeckten Klüsener, Myrskylä und Fox einen positiven Zusammenhang zwischen Geburtenraten und Einkommen, wo das Entwicklungsniveau hoch war.
Dieser Zusammenhang lässt sich sowohl für Europa als Ganzes feststellen (siehe Trendlinie in der Grafik für 2012), als auch innerhalb einer zunehmenden Zahl europäischer Länder. Der positive Trend entstand erst in jüngerer Zeit und existierte vor wenige Jahrzehnten noch nicht (siehe Grafik für 1992).
Kein Trend im Jahr 1992: Weder fielen noch stiegen die Geburtenraten der europäischen Regionen im Durchschnitt mit einer Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens. Daten: Nationale statistische Ämter, Cambridge Econometrics
© MPIDR
Als Maß für das jährliche Einkommen verwendeten die Forscher das durchschnittliche Bruttogehalt, das die Arbeitgeber pro Einwohner zahlten.
Wie die Analyse auf Ebene einzelner Länder zeigte, gab es auch 2012 noch einige Staaten, für deren Regionen der Zusammenhang von Einkommen und Geburtenrate weiterhin negativ war (mehr Einkommen führt zu niedrigeren Geburtenraten). Doch in allen Ländern, in denen es noch 1990 eine negative Tendenz gab, hat sie sich innerhalb der letzten 20 Jahre entweder zu einem positiven Zusammenhang umgekehrt, oder aber die Stärke des negativen Trends hat sich abgeschwächt.
Positiver Trend im Jahr 2012: Im Durchschnitt der etwa 250 europäischen Regionen in der Studie stiegen die Geburtenraten mit einer Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens. Daten: Nationale statistische Ämter, Cambridge Econometrics
„Diese Ergebnisse können unsere Sichtweise auf die Zukunft von Bevölkerungsgröße und –alterung ändern“, sagt MPIDR-Direktor Mikko Myrskylä.
In der Vergangenheit mussten Demografen das sogenannte ökonomisch-demografische Paradoxon erklären, demnach Bevölkerungen oder Bevölkerungsgruppen mit höherem Einkommen und höherer Bildung dazu tendierten, weniger Kinder zu bekommen, obwohl sie eigentlich mehr Ressourcen hatten.
Dieser Zusammenhang ließ einige Demografen Szenarien entwerfen, in denen die Geburtenraten unweigerlich immer weiter fielen und weit unterhalb von 2,1 Kindern pro Frau verharrten, so lange die positive wirtschaftliche Entwicklung weiterging.
Das Ergebnis waren Prognosen rapide schrumpfender und alternder Gesellschaften, in denen der Wunsch nach Kindern verschwand und eine Kultur der Kinderlosigkeit entstand.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Entwicklungsstand einer Region auf hohem Niveau nicht mehr als ‚Verhütungsmittel’ wirkt, sondern potenziell sogar höhere Geburtenraten begünstigt“, sagt MPIDR-Forscher Sebastian Klüsener.
Dies dürfte sehr wahrscheinlich die regionalen Fertilitätsmuster verändern: Hoch entwickelte Metropolregionen mit bisher unterdurchschnittlichen Geburtenraten könnten in Zukunft zu Hochburgen der Fertilität werden.
Solche Tendenzen zur Trendumkehr bedeuten nicht zwangsläufig, dass sich die Geburtenraten auf ein hohes Niveau von etwa zwei Kindern pro Frau zubewegen. Die Veränderung kann auch auf niedrigerem Geburtenniveau stattfinden.
Mehr Kinder durch mehr Kinderbetreuung, Telearbeit und Migration
Die Gründe für die Trendwende im Verhältnis von Ökonomie und Fertilität sehen die Forscher vor allem im Ausbau der Familienpolitik und in flexibleren Arbeitsbedingungen, die es erlauben, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren.
„Sogar in Gebieten mit sehr niedrigen Geburtenraten wollten die Menschen schon immer mehr Kinder“, sagt Demograf Mikko Myrskylä. „Jetzt greifen moderne familienpolitische Maßnahmen und Arbeitsbedingungen, und ermöglichen ihnen, die größeren Familien zu haben, die sie sich wünschen.“
Die wichtigste Veränderung in der Familienpolitik ist den Forschern zufolge der Trend, unspezifischen Geldzahlungen wie Kindergeld zu ersetzen durch eine neue Generation von Maßnahmen, die darauf zielt, arbeitenden Eltern konkret mit Zeit und Geld zu helfen.
„Gerade für die Höhergebildeten ist es hilfreich, die Kinderbetreuung außerhaus auszubauen, Elterngeld-Leistungen auszuweiten, die an das vorherige Einkommensniveau anknüpfen, und eine Rückkehr in den alten Job garantieren“, sagt Mikko Myraskylä. „Dies alles gibt den Eltern Sicherheit für ihre zukünftige Karriere.“ Das sei wichtig, sagt Myrskylä, da in vielen Ländern der Anteil an Frauen drastisch sine, die ihre Karriere riskieren wollen, weil sie ein Kind bekommen.
Besser vereinbar werden Arbeit (und dadurch Einkommen) und Familie auch durch weniger starre Arbeitsbedingungen wie Telearbeit, flexible Arbeitsorte oder Arbeitszeiten. Sie befreien Eltern von der Pflicht, Vollzeit am regulären Arbeitsplatz sein zu müssen, und machen es ihnen leichter, Zeit mit der Familie zu verbringen.
„In einem gewissen Ausmaß kommt die Arbeit sozusagen wieder nach Hause“, sagt Demograf Sebastian Klüsener. „So wie die Industrialisierung die Leute im 19. Und 20. Jahrhundert das Haus verlassen ließ, um zur Arbeit zu gehen, ermöglichen es nun technologische Fortschritte wie das Internet, die räumliche Organisation der Arbeit im 21. Jahrhundert wieder zu verändern.“
Ein weiterer wichtiger Faktor sind Wanderungs-Trends. Hoch entwickelte Regionen sind attraktive Ziele für Migranten von außerhalb aber auch von innerhalb des eigenen Landes.
Einwanderer sind für gewöhnlich gesünder als die Durchschnittsbevölkerung, was tendenziell ihre Fertilität erhöht. Dazu kommen sogenannte Tempo-Effekte, da Migranten ihre Familienplanung häufig aufschieben, bis sie sich am neuen Wohnort fest niedergelassen haben.
Aus abgelegenen Regionen hingegen wandern gut ausgebildete und aktive Menschen häufig ab. Das wirkt sich dort negativ auf den Partnermarkt und die Geburtenrate aus.
Neuer Stoff für die Debatte über unsere demografische Zukunft
Die Trendwende in der Beziehung von Entwicklungsstand einer Bevölkerung und deren Fertilität hatte MPIDR-Direktor Mikko Myrskylä bereits 2009 in einer aufsehenerregenden Studie im Wissenschaftsjournal Nature belegt. Dort hatte er weltweit Staaten mit hohem Entwicklungsstand verglichen.
Die aktuelle Studie zeigt nun, dass Trends zu einer solchen positiven Beziehung auf hohem Entwicklungsstand auch innerhalb vieler Länder Europas zu sehen sind.
In ihrer Veröffentlichung reagieren die Autoren auch die Kritik, die Trendumkehr sei ein Artefakt, das aus dem massiven Anstieg des Alters der Frauen bei Geburt ihrer Kinder entstehe. In vielen industrialisierten Ländern schieben Frauen ihre Mutterschaft in ein immer höheres Alter auf. Dies erhöht dort vorübergehend die Geburtenrate.
Doch die neue Studie findet auch dann den positiven Zusammenhang zwischen Einkommen und Geburtenrate, wenn sie solche Timing-Effekte herausrechnet.
Die Belege häufen sich, dass die Tage des ökonomisch-demografischen Paradoxons gezählt sind.
Bevölkerungsdaten für Europas Regionen
Die Wissenschaftler untersuchten in ihrer Studie bis zu 263 europäische Regionen aus 20 Ländern in den Jahren 1990 bis 2012. Die Gebiete entsprachen den „NUTS-2“-Regionen der Europäischen Union, in denen jeweils zwischen einer und drei Millionen Einwohner leben.
Das Einkommen wurde als „Angestelltenentlohnung pro Kopf“ gemessen. Das ist das gesamte von den Arbeitgebern gezahlte Bruttogehalt inklusive Extrazahlungen wie Sozialversicherungsbeiträge, dividiert durch die Zahl der Einwohner pro Region. Das Einkommen wurde in Eurowerten von 2005 berechnet.
Die Geburtenraten waren die jeweils aktuellen Jahreswerte (Zusammengefaste Geburtenziffer). Alle Daten stammen von Eurostat, der amtlichen Statistik der Länder oder von Cambridge Econometrics.
Neues Forschungsnetzwerk zur Entwicklung der Fertilität
Das MPIDR hat den neue Forschungsverbund Register-Based Fertility Research Network ins Leben gerufen, um die Entwicklung der Fertilität mit Register-Daten und register-ähnlichen Daten tiefgehend zu untersuchen.
Auf Individual-Ebene, also der der einzelnen Menschen, nimmt das Netzwerk vor allem Trends unter die Lupe, die durch die sozioökonomischen Eigenschaften von Frauen, Männern und Paaren bestimmt werden. Außerdem stehen in Regionen jeden Entwicklungsstandes die Effekte selektiver interner und internationaler Migration auf die Fertilität im Fokus.
Auf gesellschaftlicher Ebene liegt der Schwerpunkt auf Geburtentrends in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Lage und der Verfügbarkeit von Kinderbetreuung.
Weitere Informationen und Downloads
Daten: Geburtenraten der europäischen Regionen von 1990 bis 2012 als Excel-Datei (XLSX-Datei, 224 kB) (Namen und Text auf Englisch)
Diagramm Geburtenrate und Einkommen 1992 als Vektorgrafik (PDF-Datei, 132 kB)
Diagramm Geburtenrate und Einkommen 2012 als Vektorgrafik (PDF-Datei, 134 kB)
Originalveröffentlichung: Jonathan Fox, Sebastian Klüsener, Mikko Myrskylä: Is a Positive Relationship Between Fertility and Economic Development Emerging at the Sub-National Regional Level? Theoretical Considerations and Evidence from Europe, European Journal of Population, DOI 10.1007/s10680-018-9485-1
Nature Veröffentlichung von 2009: Mikko Myrskylä, Hans-Peter Kohler, Francesco C. Billari, Advances in development reverse fertility declines, Nature, 2009, DOI 10.1038/nature08230