08. August 2018 | News | News

Transfers in einer alternden Europäischen Union

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Die Bevölkerungen aller europäischer Länder altern, aber nicht in gleicher Form und gleicher Geschwindigkeit. Die MPIDR-Forscherin Fanny Kluge stellt eine Rechnung auf: Wie sähe eine Transfer-Union aus, in der die Kosten demografisch benachteiligter Staaten von den anderen mitgetragen würden?

In einem Punkt gleichen sich die Länder der Europäischen Union: Sie haben Bevölkerungen, die altern. In allen Ländern Europas sind die Geburtenraten unter das Reproduktionsniveau gefallen, sogar in Frankreich und den skandinavischen Ländern, die die meisten Geburten pro Einwohner innerhalb der EU zu verzeichnen haben. Und in allen Ländern Europas werden die Menschen immer älter. In westlichen Wohlfahrtsstaaten könnte jedes zweite heute geborene Mädchen 100 Jahre alt werden.

Aufgrund dieser Entwicklung werden 2050 nur noch 14,8 Prozent der EU-Bürger jünger als 15 Jahre alt sein, 2014 waren es noch 15,6 Prozent. Der Anteil der Menschen in der Altersgruppe über 65 wird im gleichen Zeitraum von 18,9 Prozent auf 28,5 Prozent ansteigen.

Trotz dieses allgemeingültigen Trends in Richtung deutlich älterer Bevölkerungen, ist die demografische Entwicklung in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich. Ein wichtiger Faktor ist, zu welchem Zeitpunkt der Geburtenrückgang eingesetzt hat. In den Gründungsstaaten Deutschland und Italien, genauso wie in vielen Ländern Süd- und Osteuropas, sind die Geburtenraten schon in den 1970er Jahren gefallen, weshalb diese Länder in den kommenden Jahrzehnten den demografischen Druck zunehmend zu spüren bekommen. Abgesehen von Deutschland trifft der demografische Wandel also genau jene Länder, die heute mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben.

Grundsätzlich gilt: Die Einnahmen, die ein Staat für einen Bürger erzielt und die Ausgaben, die er für ihn tätigen muss, variieren je nach Altersgruppe. Am Anfang seines Lebens kostet ein Mensch den Staat Geld, das vor allem in die Ausbildung fließt. Am Ende des Lebens schlagen die Kosten für Rente und Pflege zu Buche. Steuereinnahmen werden in allen europäischen Ländern hauptsächlich von der Altersgruppe 30 bis 60 Jahre generiert. Alternde und wirtschaftlich schwache Länder erzielen weniger Steuereinnahmen, da sie mehr Bürger in Altersgruppen haben, die wenig oder keine Steuern zahlen. Diese Länder laufen Gefahr, dass sich die junge Bevölkerung abwendet, wenn die wirtschaftlichen Belastungen größer werden. Die jüngeren Menschen können sich höheren Abgaben entziehen, die erforderlich sein werden, wenn eine immer kleiner werdende Zahl an jungen Menschen eine immer größere Zahl älterer Menschen finanziell mittragen muss, indem sie in ein anderes EU-Land ziehen, das ihnen bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen bietet. Diese Mobilität innerhalb der EU wird durch entsprechende gesetzliche Regulierungen gefördert. Da die arbeitende Bevölkerung im Schnitt die meisten Steuern zahlt, trifft eine EU-Binnen-Migration die wirtschaftlich schwachen Länder besonders hart, weil ihnen so benötigte Steuereinnahmen entgehen. Außerdem fließt dadurch ein zunehmend großer Anteil des Staatshaushaltes dieser Länder in die Bildung, obwohl sie von diesen Investitionen nicht mehr profitieren. Sie müssen außerdem damit rechnen, dass die Menschen in ihre Heimatländer zurückkehren, wenn sie das Rentenalter erreichen. Dies könnte den Staatshaushalt zusätzlich belasten, weil zwar die Rente von den Ländern ausgezahlt wird, in denen die Steuern während der Erwerbstätigkeit gezahlt wurden, die Kosten für Pflege und Gesundheit aber von dem Land, in dem ein Mensch lebt, getragen werden.

Wie schnell ein Land von der Binnenmigration innerhalb der EU betroffen sein kann, zeigt sich am Beispiel von Spanien. Nach der Finanzkrise 2008/2009 verliessen viele junge Menschen das Land, um sich Arbeit in einem anderen europäischen Land zu suchen. In diesem Artikel, der im Juli 2018 online in der Fachzeitschrift The Journal of the Economics of Ageing veröffentlicht wurde, haben wir berechnet, wie sich diese Binnenmigration auf den spanischen Finanzhaushalt auswirkt. Die größten Auswanderungsraten verzeichnete die Altersgruppe der  25- bis 40-jährigen Spanier. 2013 beispielsweise wanderten zwei Prozent der 25- bis 35-jährigen Spanier aus. Zwei Prozent seiner Steuerzahler zu verlieren, bedeutet für ein Land hohe Verluste. Für den spanischen Haushalt hieß das in 2013: Die ausgewanderten Spanier verursachten 2,7 Milliarden Euro weniger Ausgaben. Dieser Zahl stehen aber 3,9 Milliarden Euro Steuereinnahmen gegenüber, die dem Staat durch die Auswanderung entgangen sind. Dies sind jedoch nur Modellrechnungen, die in etwa eine Vorstellung für die Größenordnung geben sollen. Die Auswanderungsländer können zum Beispiel keineswegs davon ausgehen, dass die Menschen, wenn sie geblieben wären, alle erwerbstätig wären und diese Überschüsse so auch in der Realität erwirtschaften würden.

Man kann aber auch durchschnittlich erwartbare Steuereinnahmen für einen Bürger beziffern: Ein 25-jähriger Spanier könnte bis an sein Lebensende im Schnitt 60.000 Euro  Steuern zahlen, ein 30-jähriger im Schnitt noch 51.000 Euro und ein 35-jähriger noch 32.000 Euro.

Die Daten für die Untersuchung lieferte das National Transfer Account Projekt. Diese National Transfer Accounts sind in einer frei zugänglichen, länderübergreifenden Datenbank hinterlegt, für die Forscher aus mehr als 60 Ländern Daten erheben und verarbeiten, die Aufschluss darüber geben, wie viel die Menschen in den verschiedenen Altersgruppen produzieren, konsumieren, wie viele Ressourcen sie teilen und welche Rücklagen sie bilden.

Nutzt man diese Daten, ergibt das Modell folgende Ergebnisse: Im europäischen Durchschnitt würde die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Haushalten in 2030 auf rund 6,5 Prozent und bis 2050 auf rund 14 Prozent ansteigen. Mit besonders großen Finanzlöchern müssten Süd- und Ost-Europa und Deutschland rechnen. Die größten Defizite gäbe es in Griechenland, Portugal und Spanien. In diesen Ländern würde der Unterschied zwischen Ein- und Ausnahmen im Jahr 2050 bei rund 20 Prozent liegen. Die geringsten Defizite hätten Luxemburg mit 4 Prozent, gefolgt von Belgien, Schweden und Dänemark (ungefähr 10 Prozent). Bei den Berechnungen sind wir von den Kosten ausgegangen, die heute Menschen in den unterschiedlichen Altersklassen verursachen. Wir gehen in den Berechnungen außerdem davon aus, dass sich Konsumverhalten und Lebensarbeitszeit nicht verändern. Schon kleine Veränderungen, wie die Verschiebung des tatsächlichen Renteneintrittsalters um 3 Jahre würden sich signifikant auswirken und die Defizite merklich schrumpfen.

In unserer Betrachtung ist es vor allem die Alterszusammensetzung der Bevölkerung, die darüber entscheidet, wie hoch der Defizit ausfällt. Die Demografie ist ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der öffentlichen Haushalte.

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen demografischen Entwicklungen und wachsenden Kosten könnte man sich das Gedankenexperiment einer Transfer-Union auf europäischer Ebene anschauen, bei dem das Risiko der Alterung der Bevölkerung von allen Mitgliedsstaaten gemeinsam getragen wird. In diesem Szenario müssten die Länder der EU in 2050 rund 150 Milliarden Euro aufbringen, um die Haushaltsdefizite aller Länder auszugleichen. Diese Summe entspricht in etwa dem aktuellen EU-Budget. Um sie aufzubringen, müssten alle Länder 16 Prozent mehr Steuern erheben. Demografisch bevorteilte Länder, wie Dänemark, Belgien und Frankreich würden mit solch einer Steuererhöhung mehr Steuern einnehmen, als sie benötigen. Empfänger-Länder wären unter anderem Slowakei, Estland und Slowenien.

Politisch ist es kaum denkbar, eine Mehrheit für solch eine demografische Transfer-Union zu gewinnen. Wenn die demografische Entwicklung aber ausgeblendet wird, kann sie zu einem Thema werden, das die EU zusätzlich unter Druck setzt. Es ist wahrscheinlich, dass die wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb Europas durch die Demografie noch größer werden und in einer EU der offenen Grenzen lässt sich ein Generationen-Vertrag, in dem die jüngeren für die älteren sorgen, innerhalb einzelner Länder schwerer realisieren.

Über die Autorin:
Fanny Kluge ist Postdoc in MPIDR-Bereich Digitale und computergestützte Demografie.

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Original Article: Transfers in an aging European Union, Fanny A. Kluge, Joshua R. Goldstein, Tobias C. Vogt, The Journal of the Economics of Ageing, 23 July 2018 (online), https://doi.org/10.1016/j.jeoa.2018.07.004

 

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