08. Dezember 2021 | News | Interview

Wie man die Variation im Sterbealter mit einer neuen Metrik messen kann

Alyson van Raalte und Marília Nepomuceno © MPIDR

Die MPIDR-Forscherinnen Marília Nepomuceno und Alyson van Raalte führen im vor Kurzem in der Fachzeitzeitschrift „Demography“ veröffentlichten Artikel eine neue Methode ein, die Variation im Sterbealter zu messen. In diesem Interview erklären die Forscherinnen, warum es wichtig ist, die Variation im Sterbealter zu analysieren und warum die neue Metrik eine erweiterte Perspektive bietet.

Frau Dr. Nepomuceno, Frau Dr. van Raalte, Sie haben eine neue Sterblichkeitsmetrik eingeführt. Worum handelt es sich dabei?

Dr. Nepomuceno: Wenn man Menschen fragt, wie sicher sie sind, dass sie ein bestimmtes Alter erreichen werden, nutzen sie vielleicht aktuelle Sterberaten um Trends vorausberechnen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie eine Schätzung abgeben, die darauf beruht, wie unterschiedlich das Sterbealter der Menschen war, die ihnen nahestanden: Eltern, Freunde, Nachbarn und Kolleg*innen. Einige dieser Personen können dabei erst vor kurzem gestorben sein, andere vielleicht schon vor einer Generation.

Dr. Van Raalte: Unsere neue Sterblichkeitsmetrik, die wir CAL† (cross-sectional average inequality in lifespan) nennen, ist eng mit dieser zeitlichen Perspektive verknüpft. Im Grunde berechnen wir die Variation im Sterbealter, denen eine durchschnittliche Person in einer Bevölkerung während ihres gesamten Lebens ausgesetzt gewesen wäre.

Inwiefern unterscheidet sich dieser Ansatz von Sterblichkeitsmetriken im Allgemeinen?

A.v.R.: Meistens vergleichen wir Bevölkerungen auf der Grundlage des durchschnittlichen Sterblichkeitsniveaus bei aktuellen Sterblichkeitsraten. Das beste Beispiel dafür ist die Lebenserwartung bei der Geburt, die üblicherweise einfach als Lebenserwartung bezeichnet wird. Um diese Lebenserwartung zu berechnen, stellen wir die hypothetische Frage: Wie hoch wäre das durchschnittliche Sterbealter in der Bevölkerung, wenn alle Menschen ihr ganzes Leben lang, also vom Säugling bis zum Greis, den altersspezifischen Sterberaten eines bestimmten Jahres ausgesetzt wären? Natürlich lebt niemand sein ganzes Leben zu denselben Bedingungen eines einzelnen Kalenderjahres! Trotzdem ist die Lebenserwartung ein nützliches Maß, um Vergleiche zwischen verschiedenen Bevölkerungen anzustellen.

M.N.: Genau, aber die Lebenserwartung ist nur eine Durchschnittsgröße. Es ist auch wichtig, die Verteilung der Sterblichkeit zu berücksichtigen, oder wie ungleich das Sterbealter in einer Bevölkerung ist. Die Variation im Sterbealter misst diese Ungleichheit. Für Einzelpersonen kann man sich die Variation im Sterbealter als Unsicherheit des Todeszeitpunkts vorstellen. Eine hohe Variation im Sterbealter bedeutet, dass man weniger sicher sein kann, entweder die durchschnittliche Lebenserwartung zu erreichen oder viele Jahre darüber hinaus zu leben.

... und was ist das Neue an Ihrem Ansatz im Vergleich zu bestehenden Methoden?

M.N.: Der Hauptunterschied ist die zeitliche Perspektive, über die wir schon gesprochen haben. Anstatt die Variation im Sterbealter über ein Kalenderjahr zu messen (Periodenansatz) oder über ein Geburtsjahr (Kohortenansatz), berechnen wir die Variation im Sterbealter aller Personen, die innerhalb der Lebenszeit der ältesten Person einer Population geboren wurden.

Ist Ihre neue Methode auf Sterblichkeitsdaten aller Länder anwendbar?

M.N.: Ja, aber dazu sind lange Zeitreihen von Daten erforderlich, die in der Regel mindestens 100 Jahre umfassen. Leider haben die meisten Länder nicht alle Geburten und Sterbefälle über einen so langen Zeitraum erfasst.

In Ihrer aktuellen Studie haben Sie die Methode auf elf europäische Länder angewandt. Was haben Sie herausgefunden?

A.v.R.: Ja, das haben wir. Eine Rangliste der Länder, in denen Frauen die größte Unsicherheit über ihre Lebensdauer haben, sieht so aus: Italien, Frankreich, Schottland, Dänemark, England und Wales, Finnland, die Niederlande, Norwegen, die Schweiz und Schweden.

M.N.: Generell haben wir festgestellt, dass die durchschnittliche Ungleichheit im Sterbealter im Querschnitt über alle Länder hinweg stetig abnimmt, was bedeutet, dass das Sterbealter im Laufe der Zeit und über die Generationen hinweg immer ähnlicher wird. Die neue zeitliche Perspektive zeigt jedoch, wie unterschiedlich die Menschen in den einzelnen Ländern der Sterblichkeit ausgesetzt waren. Nehmen wir zum Beispiel Italien und Schweden: Vergleicht man ihre aktuellen Sterberaten, so ergibt sich ein sehr ähnliches Niveau der Variation im Sterbealter. Betrachtet man jedoch die gesamte Lebenspanne so hatten die Italiener*innen die größten Unterschiede im Sterbealter und die Schwed*innen die geringsten. Das liegt daran, dass die Sterberaten in Italien sehr schnell gesunken sind, während sich dieser Prozess in Schweden viel langsamer vollzog.

Warum sind diese Ergebnisse so wichtig?

M.N.: Jeder Mensch hat Erwartungen an das Alter, in dem er voraussichtlich sterben wird. Wenn diese Altersspanne eng ist, erleichtert das viele Dinge im Leben - vom Ruhestand bis zur Familienplanung. Wenn wir aber glauben, dass die Wahrscheinlichkeit mit 50 Jahren zu sterben genauso hoch ist, wie mit 90, führt dies zu einer enormen Unsicherheit in unserem Lebenslauf.

Zum Schluss noch ein Ausblick: Welche Anwendungsmöglichkeiten sehen Sie für Ihre neue Methode in der Zukunft?

A.v.R.: Bisher haben wir nur Unterschiede auf nationaler Ebene untersucht, aber Ungleichheiten treten wahrscheinlich auch zwischen regionalen Gruppen auf. Es ist seit langem bekannt, dass Menschen, die das Gefühl haben, wenig Kontrolle über ihre Lebenszeit zu haben, eher zu riskantem Verhalten neigen und sich seltener an Aktivitäten beteiligen, bei denen der Gewinn viele Jahre in der Zukunft liegt. Wir hoffen, dass wir durch die Entwicklung dieses neuen Maßstabs, der die lebenslange Exposition gegenüber einem unterschiedlichen Sterbealter bewertet, in der Lage sein werden, einige dieser Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen zu erklären.

Originalpublikation

Nepomuceno, M.R., Cui, Q., van Raalte, A., Aburto, J.M., Canudas-Romo, V.: The Cross-sectional Average Inequality in Lifespan (CAL): A Lifespan Variation Measure That Reflects the Mortality Histories of Cohorts. Demography (2021) DOI: 10.1215/00703370-9637380

Autor*innen und Institutionen

Marília R. Nepomuceno, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Qi Cui, Centre d'Estudis Demogràfics, Universitat Autònoma de Barcelona, Barcelona

Alyson van Raalte, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

José Manuel Aburto, Leverhulme Centre for Demographic Science and Department of Sociology, University of Oxford; Interdisciplinary Center on Population Dynamics, University of Southern Denmark, Odense

Vladimir Canudas-Romo, School of Demography, Australian National University, Canberra

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