03. Dezember 2020 | News | Interview

Wo Sozialwissenschaft auf Computational Science trifft

© iStockphoto.com/Laurence Dutton

Seit einiger Zeit floriert ein neues Forschungsfeld. Computational Social Science (CSS) ist ein interdisziplinäres Gebiet, das Informatik und Sozialwissenschaften verbindet. Die Demografie steht dabei im Mittelpunkt. In diesem Interview führt uns Samin Aref, Informatiker am MPIDR, in das neue Forschungsfeld ein.


Herr Aref, wie würden Sie in einem Satz erklären, was Computational Social Science ist?
 
Für mich ist das Forschungsfeld Computational Social Science oder CSS wie ein großes Puzzle, das einzelne Teile vereint, ein neues Wissenschaftsgebiet formt und Fortschritt in der Forschung beschleunigt.
 
Wie genau sieht das für Forschende aus?
 
Trends in der Wissenschaft haben zuletzt dazu geführt, dass Forschende aus vormals getrennten Disziplinen zusammenarbeiten und neue Kollaborationen bilden. Sie verbinden Computational Science mit Sozialwissenschaft, um neue Wege empirischer Forschung und wissenschaftlicher Theorie zu finden.
 
Warum gewinnt CSS gerade jetzt bei einer ganz heterogenen Gruppe Forschender an Einfluss?
 
Ein Grund dafür ist die Digitale Revolution. Die Menge neuer Daten, die alle zwei Jahre erstellt wird, ist heute größer als alle Daten, die bis dahin zuvor produziert wurden. Dieses exponentielle Wachstum hat viele Forschende dazu veranlasst, über Möglichkeiten nachzudenken Daten für ihre Forschung zu nutzen.
 
Welchen Einfluss hat die Digitale Revolution auf Sozial- und Geisteswissenschaften?
 
Ein beachtlicher Teil der neuen digitalen Daten wird während sozialer Interaktionen erzeugt. Die Daten werden passiv erfasst, als Nebenprodukt, durch Smartphones und andere Geräte mit denen wir täglich interagieren. Jeder von uns hinterlässt einen Fußabdruck in der digitalen Welt, so entsteht Big Data. In Volumen, Vielfalt, Echtzeit-Erhebung und Aussagekraft unterscheidet sich Big Data von Forschungsdaten, die mit traditionellen Methoden erhoben werden.
 
Dass dieses neue Forschungsfeld entstanden ist, liegt also an den riesengroßen Datenmengen, die durch zwischenmenschliche Aktivitäten entstehen?

Genauso ist es! Abgesehen davon wächst gleichzeitig auch die Rechenleistung von Computern exponentiell. Die neuen Rechenkapazitäten, die durch künstliche Intelligenz ermöglicht werden, unterstützen eine datenintensive sozialwissenschaftliche Forschung des 21. Jahrhunderts. Künstliche Intelligenz ist bereits in vielerlei Hinsicht Teil unseres sozialen Umfelds. Sie beeinflusst unsere grundlegendsten gesellschaftlichen Entscheidungen: So werden beispielsweise immer mehr Beziehungen und Ehen durch Dating-Apps und Partnervermittlung auf Basis von Algorithmen angebahnt.

Klingt nach Chance und Herausforderung zugleich...
 
Ja, das wirft neue ethische, rechtliche und soziale Fragen auf. Sie betreffen Datenschutz, Dateninfrastruktur und Datenzugang. Der technologische Fortschritt ist schneller, als die Forschung die gesellschaftlichen Auswirkungen des digitalen Wandels untersuchen kann. Auch politischen Entscheidungsträgern fällt es schwer, das Sammeln, den Zugang und das gemeinsame Nutzen digitaler Daten zeitnah zu regulieren.
Zudem wird es für die Forschung zunehmend schwieriger, Zugang zu Big Social Data von den großen Tech-Unternehmen zu bekommen. So schöpfen wir die Möglichkeiten, diese Daten sinnvoll zu nutzen, nicht aus. Das kann auf gesellschaftlicher Ebene eine digitale Kluft erzeugen und unerwünschte Folgen haben.
 
Wie wollen Sie gegensteuern?
 
Viele Wissenschaftler*innen, die nicht unbedingt Expert*innen im Programmieren, beim Datenschutz oder in der IT sind, sehen die Entwicklungen, äußern Bedenken und erkennen ihre Relevanz für die Sozialwissenschaften. Das interdisziplinäre Feld CSS kann deshalb zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen. Interdisziplinäre Ausbildung kann die digitale Kluft verkleinern. Als Teil eines Online-Kurses am MPIDR habe ich vor Kurzem Big Data und Computational Social Science unterrichtet. Es haben 129 Studierende aus 43 Ländern mit sehr unterschiedlichen Studienschwerpunkten teilgenommen. Für mich sind die aktuellen Entwicklungen im Forschungsfeld eine Möglichkeit, nicht abzuwarten oder die Analyse von Big Social Data den Tech-Unternehmen oder Regierungen zu überlassen. Das Forschungsfeld Computational Social Science kann dazu beitragen, ein Zeitalter der Datenskandale, der Verletzung der Privatsphäre und der Unterdrückung der Menschenrechte, ausgelöst durch Künstliche Intelligenz, zu verhindern.
 
Da sich das MPIDR auf die Demografie konzentriert, was ist die Rolle der demografischen Forschung in der CSS?
 
Neu im Feld und sicherlich auch als Nicht-Experte, sehe ich die Demografie als das quantitative und beobachtende Teilgebiet der Sozialwissenschaften, das seit vielen Jahrzehnten von inklusiven und interdisziplinären Methoden und Ansätzen profitiert, um Daten sinnvoll zu nutzen. Die Demografie hat in der Computational Social Science eine ganz besondere Rolle. Sie bietet wichtiges Verfahrenswissen für die Kombination und Analyse umfangreicher Daten aus heterogenen Quellen. Es ist wenig überraschend, dass Demograf*innen den Begriff „Big Data“ nicht so oft nutzen, obwohl er in anderen Forschungsfeldern in aller Munde ist. Für Demograf*innen waren Daten in gewisser Weise schon immer groß.

Über den Interviewpartner

Bevor Samin Aref 2018 an das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock kam, war er Doktorand der Informatik an der University of Auckland. Dort arbeitete er an der Entwicklung von Rechenmethoden und Hochleistungs-Algorithmen für folgende theoretische sozialwissenschaftliche Forschungsfrage: Ist der Feind eines Feindes ein Freund? Er war dem Zentrum für mathematische Sozialwissenschaften und Te Pūnaha Matatini angegliedert, das ihn bei der Durchführung interdisziplinärer Forschung unterstützte.
 
Am MPIDR arbeitet Samin Aref eng mit seinen Kolleg*innen zusammen, die in Demografie oder in verwandten sozialwissenschaftlichen Disziplinen ausgebildet sind, um drängende demografische Kernfragen zu behandeln; darunter Migration und Mobilität, Alterungs- und Generationsprozesse sowie Sozial- und Umweltdynamik. Aufbauend auf soliden methodischen Grundlagen nutzen die Forschenden eine Kombination aus traditionellen und unkonventionellen Datenquellen sowie neue computergestützte Ansätze.

Weiterführende Literatur

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Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock ist eines der international führenden Zentren für Bevölkerungswissenschaft. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften.