02. Juli 2025 | Pressemitteilung
Schneller demografischer Wandel verändert Struktur von Familien
Studie des MPIDR: Beschleunigter demografischer Wandel erzeugt gravierende Unterschiede in der Zahl der Verwandten
Sinkende Geburtenraten und eine steigende Lebenserwartung verändern weltweit die Größe und die Altersstruktur von Familien. Eine aktuelle Studie zeigt, dass neben dem „Ob“ auch das „Wie schnell“ dieser Veränderungen eine Rolle spielt. Analysen realer Bevölkerungsdaten aus Thailand, Indonesien, Ghana und Nigeria sowie stilisierte Szenarien bestätigen diesen Trend. In Ländern mit einem sehr schnellen demografischen Wandel können Personen, die nur fünf bis zehn Jahre Altersunterschied haben, drastisch unterschiedliche Verwandtschaftsnetzwerke besitzen. Die rasche Verringerung und die veränderte Altersstruktur der Verwandtschaft können die traditionellen Ketten gegenseitiger familiärer Unterstützung erheblich schwächen.

Selbst wenn sie nur fünf Jahre Altersunterschied haben, kann die Anzahl der Cousins oder Töchter bei beinahe Gleichaltrigen sehr unterschiedlich sein. © iStockphoto.com / DisobeyArt
- Mit schneller sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung wachsen die Unterschiede in der Anzahl und Altersstruktur der Verwandten, selbst zwischen fast gleichaltrigen Personen.
- In Thailand hat der rasche demografische Wandel dazu geführt, dass Menschen, die nur fünf bis zehn Jahre später geboren wurden, 30 Prozent weniger Cousins und Cousinen sowie 15 Prozent weniger Töchter haben als ihre älteren Altersgenossen.
- Schnelle demografische Übergänge lassen informelle Unterstützungsnetzwerke rasch erodieren. Ohne frühzeitige institutionelle Alternativen kann es zu erheblichen Versorgungslücken und Ungleichheiten zwischen den Generationen kommen.
Die Struktur von Familien befindet sich im Wandel. Sinkende Geburten- und Sterberaten führen weltweit zu neuen Verwandtschaftsstrukturen. Doch mit welcher Geschwindigkeit verändern sich diese Strukturen? Dieser Frage sind Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR), der Stanford University und der Huazhong University of Science and Technology in Wuhan nachgegangen. In ihrer aktuellen Studie analysierten sie den Einfluss der Geschwindigkeit des demografischen Wandels auf die Anzahl und die Altersverteilung der Verwandten einer Person. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass Gleichaltrige angesichts des raschen demografischen Wandels am Ende völlig unterschiedliche Verwandtschaftsnetzwerke haben können.
„Mithilfe leistungsfähiger demografischer Tools, die Verwandtschaftsverhältnisse im Zeitverlauf modellieren, gehen wir in unserer Arbeit einer entscheidenden Frage nach: Können zwei Menschen, die nur fünf oder zehn Jahre Altersunterschied haben, am Ende völlig unterschiedliche Familienstrukturen haben? Und die Antwort lautet ‚Ja‘. Damit sind tiefgreifende Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft verbunden“, erklärt Sha Jiang, Autorin der Studie und Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Ungleichheiten in Verwandtschaftsbeziehungen und in der Abteilung Digitale und Computergestützte Demografie am MPIDR. Jiang und ihre Kolleg*innen stützten sich bei ihrer Analyse auf zwei Quellen: empirische Daten aus vier Ländern in unterschiedlichen Phasen des demografischen Wandels (Thailand, Indonesien, Ghana und Nigeria) sowie stilisierte Szenarien, in denen Variablen isoliert wurden, indem entweder die Geschwindigkeit des Wandels bei der Fertilität oder bei der Mortalität kontrolliert und die andere Variable über die Zeit konstant gehalten wurde.

Prozentuale Differenz der erwarteten Anzahl lebender Verwandter. Die obere Abbildung zeigt die prozentuale Differenz der erwarteten Anzahl lebender Cousins und Cousinen zwischen 15- und 25-jährigen Personen. Die untere Abbildung zeigt die prozentuale Differenz der erwarteten Anzahl lebender Töchter zwischen 65- und 70-jährigen Personen. © MPIDR
Schrumpfende Familien, steigende Ungleichheit
Mit sinkenden Geburtenraten und steigender Lebenserwartung verändern sich Familienstrukturen und werden vertikaler, mit mehr Generationen, aber weniger Verwandten innerhalb jeder Generation. „Unsere Forschung deckt einen entscheidenden Faktor dieses globalen Trends auf, der bisher weitgehend übersehen wurde: die Geschwindigkeit dieses demografischen Wandels. Das rasante Tempo dieser Veränderungen kann Familiennetzwerke grundlegend verändern“, erklärt Jiang.
Das zentrale Ergebnis der Studie zeigt, dass die Kluft zwischen Menschen fast gleichen Alters hinsichtlich der Anzahl ihrer lebenden Verwandten umso größer ist, je schneller der demografische Wandel voranschreitet. Verläuft der Wandel langsam, verteilen sich die Veränderungen über mehrere Jahrzehnte. Jiang und ihre Forschungspartner*innen fanden heraus, dass, wenn der Wandel jedoch innerhalb einer einzigen Generation schnell vonstattengeht, erhebliche und abrupte Unterschiede entstehen.
„Unsere Analyse stützt sich auf Daten aus Ländern wie Thailand, das einen sehr raschen Wandel – insbesondere einen Rückgang der Geburtenrate – erlebt hat, und Nigeria, wo der demografische Wandel wesentlich langsamer verlief“, so Jiang. In Thailand beispielsweise hatte ein 15-Jähriger im Jahr 2000 im Durchschnitt fast 30 % weniger lebende Cousins und Cousinen als ein 25-Jähriger. In Nigeria war dieser Unterschied mit weniger als 10 % deutlich weniger ausgeprägt. Im Jahr 2020 hatte ein 65-Jähriger in Thailand im Durchschnitt 15 % weniger Töchter als ein 70-Jähriger. In Nigeria war der Trend jedoch umgekehrt: Die 65-Jährigen hatten etwa sieben Prozent mehr Töchter als ihre älteren Mitbürger.
Versorgungslücken entstehen, wenn familiäre Netzwerke schneller zerfallen
Dieser starke Kontrast verdeutlicht, wie unterschiedlich der demografische Wandel weltweit verläuft. Die Unterschiede gehen über die Anzahl der Verwandten hinaus und umfassen auch die Altersstruktur. Rasche Übergänge führen zu dramatischen Veränderungen des Durchschnittsalters und der Altersstruktur der Verwandten. „Neue Generationen haben weniger Verwandte, und diese unterscheiden sich auch in ihrer Altersstruktur von denen früherer Generationen“, so Jiang weiter. Dieser Wandel wirkt sich direkt auf die Dynamik der generationenübergreifenden Unterstützung innerhalb der Familie aus.
Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass eine sich schnell verändernde Demografie ein frühes Handeln in Bezug auf institutionelle Unterstützung bei der Versorgung von Angehörigen notwendig macht. „Informelle Netzwerke zwischen den Kohorten zerfallen so schneller. Die Geschwindigkeit des demografischen Wandels führt zu erheblichen Ungleichheiten bei den familiären Unterstützungsressourcen zwischen benachbarten Kohorten. Dies wirft Fragen der Fairness bei der Gestaltung des Sozialsystems auf. Gesellschaften, die einen raschen Wandel durchlaufen, müssen die Entwicklung alternativer Unterstützungsmechanismen beschleunigen, um zu verhindern, dass benachteiligte Gruppen durch die entstehenden Lücken in den traditionellen Familiennetzwerken fallen“, so Sha Jiang.
Original Publikation
Sha Jiang; Wenyun Zuo; Zhen Guo; Shripad Tuljapurkar: Changing Demographic Rates Reshape Kinship Networks in Demography (2025); DOI:10.1215/00703370-11996578
Kontakt
Sha Jiang
Wissenschaftlerin
Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR)
jiang@demogr.mpg.de
Silvia Leek
Leitung Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungsorganisation
+49 (0)381 20 81 143
presse@demogr.mpg.de
Keywords
Verwandtschaftsnetzwerke, demografische Raten, Übergangsgeschwindigkeit, zeitabhängig